Fortschritte im Rückwärtsgang

Fendt-Kunden wollten einen kleineren Traktor, der bequem rückwärts und vorwärts fährt, und Neumaier Industrie-Technik sollte dieses Projekt verwirklichen.

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Rückwärts zu fahren, ist kein Kinderspiel. Entweder muss man in alle drei Rückspiegel gleichzeitig schauen oder sich den Nacken verrenken, den Arm über den Beifahrersitz legen und mit der anderen Hand gegen die Fahrtrichtung lenken. Erheblich einfacher wäre es, den Fahrersitz herumzudrehen und das Fahrzeug dann rückwärts zu steuern.

Der deutsche Nutzfahrzeughersteller Fendt, der zum AGCO-Konzern gehört, baut solche Traktoren mit drehbarem Fahrersitz. „Unsere Traktoren sind Hightech-Maschinen für Leute, die in puncto Produktivität den optimalen Traktor suchen“, erklärt Andreas Löwel, technischer Vertriebsleiter des Unternehmens. „Sie sind oft bereit, den Preis einer solchen technischen Ausstattung zu zahlen, um aus ihrem Traktor mehr herauszuholen.“

Eine Wiese zu mähen, ohne das ungemähte Gras zu beschädigen, einen Weg durch den Schnee zu bahnen, der für das Fahrzeug zu tief ist, junge Bäume zu fällen, um eine Brandschneise in einen Wald zu schlagen – in solchen Einsatzfällen möchte man die Anbaugeräte am liebsten vor sich her schieben. Aber Antriebsleistung und Manövrierfunktionen reichen nicht aus, um die Aufgabe allein in Vorwärtsfahrt zu lösen. Besser wäre es, Anbaugeräte hinten anzubringen und rückwärts zu fahren.

Bei Fendts Zuwahlsystem für die große 900er Vario-Serie Favorit lassen sich Sitz und Armaturenbrett drehen. Doch in den Kabinen der kleineren Traktoren der 700er und 800er Serien reicht der Platz nicht. Auf der Suche nach einer anderen Lösung wandte sich Fendt an Neumaier Industrie-Technik.

Eine neue Lösung
Bernd Neumaier hat das väterliche Unternehmen in der kleinen Stadt Hofstetten im Schwarzwald zu einem der führenden Werke für Spanungs- und Umformtechnik in Europa aufgebaut und sich auf Systemtechnologie verlegt.

„Die Kunden haben ständig neue Wünsche“, erzählt er, „und da gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder der Markt steuert uns oder wir steuern den Markt.“ Diese Einstellung führte ihn zu Fendt und dem ehrgeizigsten Projekt, das er je in Angriff genommen hatte.

Neumaiers Lösung beließ die Bedienelemente dort, wo sie waren, und wendete nur den Sitz. Fendts Traktoren haben bereits einen Variomatic-Joystick in der rechten Armlehne, mit dem das stufenlose Vario-Getriebe gesteuert wird. Neumaier brauchte also lediglich die linke Armlehne mit einer Steuervorrichtung auszustatten.

Aber diese Veränderung bedeutete „by-wire“-Steuerung und ein völlig separates Steuerungssystem. Ein kleines, in die Armlehne integriertes Steuerungsrad wird an Sensoren gekoppelt, die Signale an einen Rechner schicken.

Der Rechner übersetzt diese Signale in Anweisungen für die Steuerhydraulik. Die eigentliche Steuerungsbewegung der Räder wird von anderen Sensoren erfasst, die Signale an den Rechner zurückschicken. Dieser wiederum entscheidet, wann die Hydraulik den Steuerungsvorgang beenden soll.

Das gesamte System – Kabel, Sensoren und Hydraulikventile – muss aus Sicherheitsgründen doppelt vorhanden sein, und die Software muss jedes Mal, wenn der Traktor anhält, vom einen auf das andere System überwechseln, damit das Backup-System nicht ungenutzt bleibt.

Die Software liefert ProCon Elektronische Systeme, ein Systempartner von Sauer-Danfoss, dem Unternehmen, das die Komponenten für die Umwandlung der elektrischen Signale in hydraulischen Druck liefert.

„Am Anfang haben wir uns bemüht, in einfachen Bahnen zu denken“ berichtet der Geschäftsführer von ProCon, Udo Herth, „aber je weiter die Arbeit fortschritt, desto höher wurden die Anforderungen.“ProCons Software ermöglicht ein einfaches Umschalten auf das Backup-System, sobald eine Störung auftritt. Außer einer Warnmeldung auf dem Display merkt der Fahrer nichts davon. Das System erfasst überdies echte Fahrbedingungen.

Da sich die Bewegung der Räder nicht direkt auf die Lenksteuerung überträgt, wie es bei einem normalen Lenkrad der Fall ist, könnte es passieren, dass ein Fahrer, der in einer Spurrille feststeckt, weiter am Steuerungsrad dreht, obwohl sich die Räder nicht mehr bewegen lassen.

Das System erkennt, dass ein so unkontrolliertes Drehen an dem Steuerungsrad nicht zu einer plötzlichen extremen Stellung der Räder führen sollte.

Aber Fendts Traktoren waren für diese Art von technischer Ausstattung nicht konzipiert, alles musste nachträglich eingepasst werden. Neumaier montierte deshalb eine größere Kabine, die mehr Platz unterhalb des Fahrersitzes bot.

Die Heizung wurde umplatziert und ein Rechner installiert. An der Rückseite der Kabine wurden Brems- und Kupplungspedale sowie eine Kontrollanzeige eingebaut. An die Vorderräder wurden Sensoren und Kabel angeschlossen, man brachte weitere

Hydraulikelemente unter, und der Sitz auf dem patentierten Drehmechanismus wurde ausgetauscht. Die normale Lenksäule wurde mit einem Drehgelenk ausgerüstet, so dass das Lenkrad heruntergeklappt werden konnte, um Platz für das Drehen des Sitzes zu schaffen.

Fahroptionen
Der Traktor hat drei Fahroptionen. Neben der normalen Fahrfunktion gibt es eine elektronische Vorwärtsfahrt, bei der die Lenkung elektronisch gesteuert wird. Der Sitz lässt sich um 30° in jede Richtung drehen, so dass der Fahrer das Anbaugerät leichter kontrollieren kann.

Die dritte Option ist die elektronische Rückwärtsfahrt, die nur in Betrieb gesetzt werden kann, wenn der Sitz um 180° gedreht ist. Der Vario-Joystick und die Steuerungselektronik stellen ihre Richtung automatisch um.

Die elektronischen Systeme sind für den Straßeneinsatz nicht zugelassen und dürfen nur bis zu 25 Kilometer pro Stunde fahren. Die Ausführung von Lenk- und Bedienfunktionen durch leichtes Antippen macht jedoch einen großen Unterschied bei Einsätzen aus, die ein intensives Manövrieren verlangen, wie etwa dem Aufnehmen von Heuballen mit einer Schaufel. Das System ist außerdem zukunftsorientiert.

„Es kann ohne Weiteres an eine GPS-Navigationsanlage gekoppelt werden“, erklärt Neumaier, „oder der Traktor kann mit einem Laser-Scanner ausgestattet werden, um ohne übermäßige Überlappung exakt zu mähen oder zu pflügen.

Das ist mit herkömmlichen Hydrauliksystemen nicht so leicht. Der Fahrer wäre auf jeden Fall in der Lage, sich voll und ganz auf die Qualität seiner Arbeit zu konzentrieren. Es wäre sogar möglich, bei Nacht zu mähen.“

Neumaier baut ein solches Modell pro Woche, hofft aber auf mehr, wenn das Konzept bekannter wird. Der Fendt-Vertrag ist ihm wichtig: „Alles ist vorhanden“, meint er, „die Elektronik, Hydraulik und Mechanik ebenso wie der Stahl und der Kunststoff. Fendt überlässt uns die Traktoren und gestattet, die fertigen Modelle direkt an die Kunden zu liefern. Das zeigt, dass Fendt auf unsere Qualität vertraut.“

Andreas Löwel von Fendt weiß, dass kleine dynamische Betriebe wie Neumaier Lücken füllen, die große Unternehmen wie Fendt aus finanziellen Gründen offen lassen müssen. „Die Stückzahl ist für uns zu klein, aber die „by-wire“-Steuerung erhöht die Flexibilität des Traktors, senkt seine Betriebskosten pro Stunde und steigert seine Produktivität.

 

 

 

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