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Gillis Herlitz

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Die Fähigkeit zur interkulturellen Kommunikation ist im Zeitalter der Globalisierung zwingend notwendig. Große Unternehmen betonen immer wieder die Vorteile kultureller Vielfalt unter den Mitarbeitern. Da kommen praktische Ratschläge von Experten wie dem Ethnologen Gillis Herlitz gerade recht

Letztes Jahr war Gillis Herlitz viel unterwegs: Rund 70 Flüge vom Stockholmer Flughafen Arlanda und, wenn er sich nicht gerade in der Luft befand, gut 50.000 Kilometer im Auto war er in seiner Eigenschaft als Ausbilder und Mentor für Rat suchende Unternehmen unterwegs. Sein Fachgebiet ist die interkulturelle Kommunikation. Als Ethnologe und Anthropologe weiß der 63-jährige Herlitz, warum so viele Menschen an seinen Erfahrungen interessiert sind.

„Grenzüberschreitende Kontakte nehmen durch Tourismus, Handel und Migration ständig zu. Die Globalisierung macht deutlich, wie wichtig die Fähigkeit zur interkulturellen Kommunikatikon und Interaktion ist“, meint er.

Was die interkulturelle Kommunikation betrifft, wirkt Globalisierung jedoch in verschiedene Richtungen und könnte sogar in Kombination mit der „Internetexplosion“ die Grenzen zwischen nationalen Kulturen verwischen. Das würde bedeuten, dass für kulturelle Unterschiede in Zukunft andere Trennungslinien gelten als in der Vergangenheit.

„Landesgrenzen fungieren immer seltener als kulturelle Grenzen“, sagt Herlitz. „Wir Ethnologen richten unser Augenmerk lieber auf Unterschiede in Bezug auf Bildung, zwischen Land- und Stadtbevölkerung, zwischen älteren und jungen Menschen, und so weiter. Vor allem das Internet trägt dazu bei, dass die Grenzen undeutlicher werden. Heutzutage ist es durchaus möglich, dass junge Leute eine enge Beziehung zu Menschen auf der anderen Seite der Erdkugel aufbauen, die sie nie persönlich getroffen haben und auch nie kennen lernen werden.“

Eins steht fest: Herlitz hat keine raschen Rezepte zur Hand. Er bevorzugt ausgewogene Analysen komplexer Fragen (vielleicht ein Grund, warum ihm so viele gerne zuhören). In seiner 15-jährigen Tätigkeit bei der schwedischen Entwicklungshilfeorganisation SIDA (Swedish International Development Authority) begegnete er einem breiten Spektrum von Vorurteilen und Verallgemeinerungen diesseits und jenseits von kulturellen Grenzen und – zumindest am Anfang – auch bei sich selbst. Herlitz hält Vorurteile jedoch nicht nur für negativ.

„Unsere vorgefassten Ansichten helfen uns, die Welt zu begreifen, und stellen nicht notwendigerweise ein Problem dar, solange man sich darüber im Klaren ist, wann und warum man diese Verallgemeinerungen verwendet und dass man anderen Menschen mit Vorurteilen gegenübertritt“, erklärt er. „Wenn man das nicht erkennt, kann man auch nicht aktiv daran arbeiten. Was man als objektive Wahrheit auffasst, könnte in Wirklichkeit im Unterbewusstsein durch persönliche Erfahrungen und Überzeugungen gefiltert worden sein.“

In seinen ersten Jahren in Afrika hat Herlitz gelernt, dass die Frage ‚Warum verhalten die sich so?’ zu einfach ist und als Erklärungsansatz nicht ausreicht.

„Man muss sich auch fragen ‚Warum reagiere ich so?’ und ‚Warum finde ich deren Verhalten seltsam?’“

Ist Herlitz selbst bereit, sich verallgemeinernd über kulturelle Unterschiede zu äußern? Er könne sich vorstellen, eine Trennungslinie zwischen nicht-westlichen beziehungsorientierten Kulturen und westlichen erfolgsorientierten Kulturen zu ziehen, antwortet er.

„In vielen nicht-westlichen Kulturen gilt es als ungeheuer wichtig, miteinander zu reden. Wir dagegen finden, wir haben keine Zeit dafür, weil wir der Ansicht sind, wir sollten die Zeit besser damit verbringen, etwas Konkretes zu erreichen statt Beziehungen aufzubauen“, so Herlitz. „Was wir als simples Geplauder abtun, könnte tatsächlich Teil einer Geschäftsverhandlung sein. Für jemanden aus einer nicht-westlichen Kultur ist es unter Umständen viel wichtiger, sich auf persönlicher Ebene näher kennen zu lernen, als Punkte auf einer Tagesordnung abzuhaken.“

Für zielstrebige westliche Geschäftsleute, die auf effiziente Besprechungstechniken getrimmt sind, kann die Reise in einen neuen Kulturkreis zu einer echten Herausforderung werden. Worüber soll man reden, wenn nicht über das Geschäft? Herlitz rät, bei Geschäften in einer anderen Kultur zunächst etwas über Land und Leute herauszufinden.

„So zum Beispiel etwas über die Kunstgeschichte, die Architektur oder die Literatur des Landes, in dem man sich befindet“, schlägt er vor. „Wer derartige Kenntnisse anbringen kann, hinterlässt einen enorm guten Eindruck, insbesondere in der heutigen Zeit, in der so viele Länder um eine nationale Identität in dieser globalen Welt kämpfen. Den geschäftlichen Nutzen eines guten Eindrucks sollte man nicht unterschätzen.“

Ein anderer schwieriger Punkt für westliche Besucher ist die unterschiedliche Auffassung von Zeit.

„Wenn man sich mit jemandem zu einem bestimmten Zeitpunkt verabredet und die Person erst eine Stunde später mit der Begründung ankommt, ein Verwandter sei krank geworden, fühlt man sich leicht verärgert, wenn man mit der beziehungsbasierten Kultur nicht vertraut ist. In westlichen Industrieländern ist ‚Zeitvergeudung’ eine Todsünde“, meint Herlitz. „Wir neigen dazu, Zeit als etwas Begrenztes und Lineares anzusehen, aber in vielen Kulturen ist Zeit endlos und verläuft in Zirkeln. Die zweckbetonte Denkweise herrscht überall in der westlichen Kultur vor.“

Die Kehrseite der glänzenden Globalisierungsmedaille, sagt Herlitz, ist das wieder erwachte Interesse am Nationalismus, teilweise als Reaktion auf das Gefühl einer zunehmenden Wurzellosigkeit in einem angeblich globalen Dorf. Als Beispiel führt Herlitz an, dass in den letzten zehn Jahren mehr Bücher über schwedische Kultur erschienen sind als in den 90 Jahren zuvor.

„Ich habe mich gefragt, warum, und bin zu dem Schluss gekommen, dass die EU und die Einwanderung die Hauptursachen sind“, erklärt er. „Aus der Begegnung mit anderen Menschen erwächst das Bedürfnis, die eigene Person gegenüber anderen abzugrenzen. Daraus ergibt sich die Suche nach einer Identität, verbunden mit dem Wunsch, die Unterschiede zwischen uns und denen hervorzuheben.“

Die erste Reaktion auf Schwedens EU-Beitritt (der 1995 erfolgte) war, dass die Menschen den Blick nach innen richteten. Herlitz erinnert sich, dass plötzlich alles Schwedische – ob Schnupftabak oder eine andere Belanglosigkeit – einen völlig neuen Stellenwert erhielt.

Es liegt laut Herlitz in der Natur des Menschen, sich mit einer Gruppe identifizieren zu wollen. Es gibt keine Gemeinschaft, die sich nicht auf die eine oder andere Weise abschottet. Das Problem ist nicht die „Wir und Die“-Denkweise an sich, sondern die Abgrenzungsmechanismen, wie es Herlitz nennt.

„Wenn wir weiterhin von ‚uns westlichen Industrieländern’ und ‚den Afrikanern’ reden und dieser Aussage eine Wertigkeit verleihen, haben wir in der Tat ein Problem“, stellt Herlitz fest. „Der Abgrenzungsmechanismus basiert darauf, welchen Wert wir den Unterschieden zum Beispiel zwischen Männern und Frauen oder Weißen und Schwarzen beimessen. Interessengruppen, die Unterschiede befestigen und verewigen wollen und diese mit negativen Werten behaften, sollte man mit Vorsicht begegnen.“

Kurzum, Herlitz zufolge darf man ruhig in solchen Begriffen wie „wir“ und „die“ denken, aber es gilt darauf zu achten, welche Wertvorstellungen dieser Unterscheidung zugrunde liegen.

„Analysieren Sie Ihre Wertvorstellungen und sehen Sie zu, dass Sie sich ihrer bewusst sind“, rät er. „Und gehen Sie niemals davon aus, Sie seien vorurteilsfrei. Nur wenige Menschen sind es. Nicht einmal Dokumentare und Historiker sind unvoreingenommen, so gerne sie es auch von sich glauben möchten.“

Neben interkultureller Kommunikation befasst sich Herlitz mit arbeitsbedingtem Stress, einem Thema, zu dem er oft Vorträge hält. Warum breitet sich dieses Phänomen aus und hat es mit der Globalisierung zu tun?

„Die Unsicherheit am Arbeitsplatz nimmt zu, weil heute das Veränderungstempo so viel höher ist“, stellt Herlitz fest. „Hinzu kommt, dass nach Ansicht vieler die Unternehmensleitung oft weitab vom Geschehen ist und keine Kontrolle hat. Das einzige, was heutzutage im Arbeitsleben außer Zweifel steht, ist, dass sich etwas verändern wird und dass nichts bleibt, wie es ist“.

Um den Mitarbeitern die Bewältigung einer zunehmend unsicheren Zukunft zu erleichtern, müssen die Unternehmen ihre eigene Kultur in verschiedenen Bereichen verankern.

„Geben Sie jedem Mitarbeiter das Gefühl, wichtig zu sein“, empfiehlt er. „Menschen brauchen Anerkennung. Sie wollen gesehen werden, und das ist nicht allein Aufgabe der Chefs. Auch die Kollegen spielen eine wichtige Rolle am Arbeitsplatz und sind ein Teil des Arbeitsumfeldes. Das muss ihnen vermittelt werden. Jeder leistet einen Beitrag.“

Es gibt eine wahre Flut von Führungskursen auf dem Markt, aber Herlitz hält Schulungen in kollegialer Zusammenarbeit für mindestens ebenso wichtig.

Intrakulturelle Kommunikation ist manchmal genauso schwierig wie interkulturelle. Deshalb muss ein Unternehmen Regeln für die soziale Interaktion am Arbeitsplatz aufstellen. Aus diesen Regeln sollte laut Herlitz klar hervorgehen, was akzeptabel und nicht akzeptabel ist, wie und wann andere kritisiert werden dürfen und wie Mitarbeiter miteinander umgehen sollten, um effiziente Arbeit zu leisten.

„Mitarbeiter brauchen die Gewissheit, nicht ausgeschlossen zu werden, nur weil sie anders denken. Derartige Regeln müssen auf allen Unternehmensebenen fest verankert sein.“

Herlitz sieht in dem zunehmenden Tempo am Arbeitsplatz und im Leben im Allgemeinen die Gefahr von Oberflächlichkeit und mangelnder Geduld mit Kollegen, die als abweichend aufgefasst werden.„Hohes Tempo ist nicht vereinbar mit wohl überlegtem Handeln. Nimmt der Stress zu, ziehen es viele vor, mit Menschen zusammenzuarbeiten, mit denen sie etwas gemeinsam haben“, meint er.

Deshalb rät er Arbeitgebern, alle Mitarbeiter in das Streben nach Vielfalt einzubeziehen, denn Vielfalt ist in unserer heutigen multikulturellen Welt nicht nur unvermeidbar, sondern wünschenswert.

„Stellen Sie nicht Leute ein, um irgendwelche Quoten zu erfüllen, sondern stellen Sie Individuen ein, die anderen die Möglichkeit geben, ebenfalls ihre Individualität auszuleben“, fährt er fort. „Sagen Sie nicht einfach, Sie seien für Vielfalt, sondern begründen Sie warum. Und wählen Sie Mitarbeiter, die neugierig sind und es wagen, anders zu sein. Wecken Sie ein Bewusstsein für die Vorteile der kulturellen Vielfalt.“

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