Die nächste Jet-Generation
Elektroflugzeug-Hersteller Lilium will den Flugverkehr transformieren.
Die elektrische Luftfahrt hebt zum Flug ab. Überall auf der Welt investieren Start-ups und etablierte Luftfahrtunternehmen Milliarden von Dollar in völlig neue Flugzeugkategorien. Trotz unterschiedlicher technischer Konzepte und Geschäftsmodelle ist das übergreifende Ziel dasselbe: ein ökologisch und finanziell nachhaltiger Flugverkehr.
Die Umstellung von Verbrennungsmotoren und fossilen Treibstoffen auf Elektromotoren und Batterien ist eine Möglichkeit, den schädlichen Emissionen herkömmlicher Flugzeuge entgegenwirken. Pioniere der elektrischen Luftfahrt suchen nach einer rentablen Marktnische für Elektroflugzeuge, die mit den derzeit verfügbaren Technologien gebaut werden.
Selbst mit den modernsten und besten Batterien, Steuerungssystemen und Motortechnologien kann ein Elektroflugzeug noch nicht genügend Energie speichern, um konventionelle Passagierflugzeuge komplett zu ersetzen. Stattdessen konzentrieren sich die Hersteller von Elektroflugzeugen auf weniger energieintensive Anwendungen wie Kurzstreckenflüge sowie Flüge mit geringerer Geschwindigkeit und Nutzlast.
Viele in der Branche betrachten Flugtaxidienste als die Anwendung, die am besten an die Kapazitäten und Begrenzungen von Elektroflugzeugen angepasst ist. Hierfür entwickeln sie Flugzeuge, die ein bis vier Personen über Strecken von wenigen Kilometern befördern können. Weil sie senkrecht starten und landen, können sie in einem städtischen Umfeld eingesetzt werden und Passagiere zwischen Innenstadt und Außenbezirken transportieren.
Längere Strecken
Lilium, ein deutscher Flugtaxientwickler und Pionier in der elektrischen Luftfahrt, geht noch weiter. Das Unternehmen arbeitet an einem Flugzeug, das neben dem Piloten bis zu sechs Passagiere über maximal 175 Kilometern befördern kann. Lilium wurde 2015 von vier Ingenieurabsolventen der Technischen Universität München gegründet.
In den kommenden 15 bis 20 Jahren werden wir in der Lage sein, ein konventionelles Elektroflugzeug mit 80 Sitzen und einer Reichweite von über 2.000 Kilometern zu bauen.
Daniel Wiegand, einer der Gründer von Lilium, ist heute leitender Ingenieur für Innovation und Zukunftsprogramme.
„Wir möchten den regionalen Flugverkehr nachhaltig und so zugänglich wie möglich machen“, erklärt einer der Gründer, Daniel Wiegand. Er ist heute als leitender Ingenieur für Innovation und Zukunftsprogramme im Unternehmen tätig. Dicht bebaute und hoch entwickelte Städte – wie viele in Europa – bieten nicht die richtigen Voraussetzungen für Flugtaxidienste über kurze Entfernungen, meint er. „Wenn man vom Auto auf ein Flugzeug und dann wieder auf ein Auto umsteigen muss, ist der Aufwand zu groß und bringt nicht genug Zeitersparnis. Ein Flug lohnt sich dann nicht.“
Lilium setzt daher auf den Intercity-Verkehr. „Beim regionalen Flugverkehr sitzt man nicht nur fünf Minuten in einem Flugzeug wie bei einem innerstädtischen Flug, sondern 30 bis 60 Minuten“, erläutert Wiegand weiter. „Deshalb braucht man hier einen anderen Flugzeugtyp mit höherer Kapazität und größerer Passagierkabine, damit man die Kosten auf eine größere Anzahl von Sitzen verteilen kann. Außerdem soll es bequemer sein und schneller gehen.“
Vor allem aber braucht man für den regionalen Flugverkehr extrem effiziente Elektroflugzeuge, die über längere Zeiträume mit möglichst wenig Energie fliegen. Deshalb hat Lilium auch jedes Detail seiner Konstruktion unter dem Aspekt der Effizienz gestaltet. Das jüngste Modell, der Lilium Jet, erinnert in seiner Architektur eher an einen herkömmlichen Starrflügler als an die von Flugtaxientwicklern bevorzugten Drehflügler.
Das als Entenflügler konzipierte Flugzeug hat die Haupttragflächen im hinteren Bereich des Rumpfes. Ausgeglichen werden sie durch kürzere „Vorderflügel“ am Bug. Mit seinen großen Tragflächen und einer abgerundeten aerodynamischen Form hat der Jet die besten Voraussetzungen für einen effizienten Flug.
Schub für Auftrieb
Um Passagieren den Komfort einer echten Punkt-zu-Punkt-Verbindung zu bieten, muss der Lilium Jet von einem Hubschrauberlandeplatz aus eingesetzt werden können. Der Jet ermöglicht dies, indem er seine Propeller und Triebwerke nach unten schwenkt und so den Schub in einen Auftrieb für vertikale Start- und Landemanöver umwandelt.
„Verglichen mit offenen Propellern ist unsere Technologie im Reiseflug wesentlich effizienter als im Schwebeflug“, sagt Wiegand. „Deshalb konzentrieren wir uns auf regionale Luftmobilität (RAM). Während eines 30- bis 60-minütigen Reiseflugs können wir alle Vorzüge von höherer Effizienz, geringerem Geräuschpegel und höherer Geschwindigkeit ausschöpfen.“
Das Schubvektor-Konzept bietet noch weitere Vorteile: Die beweglichen Triebwerke können den Lilium Jet auch steuern, so dass die bei herkömmlichen Flugzeugen erforderlichen Ruder entfallen. Das spart wertvolles Gewicht und vereinfacht Herstellung, Betrieb und Wartung.
Wahl des Antriebs
Bei der Wahl einer geeigneten Triebwerkskonfiguration dachte Lilium sowohl konventionell als auch innovativ. Die Frage war, ob das Unternehmen sich bei dem elektrischen Antriebssystem an der Turboprop-Konstruktion mit offenem Propeller oder am Mantelpropeller moderner Strahltriebwerke orientieren sollte.
„Die meisten Passagiere bevorzugen Strahlflugzeuge“, sagt Wiegand. „Sie erzeugen weniger Vibration und Lärm. Sie sind ein wenig sicherer, fliegen schneller und haben eine größere Reichweite und Kapazität.“
Der innovative Aspekt war die Anzahl der Triebwerke am Lilium Jet. Herkömmliche Starrflügler-Flugzeuge haben zwei bis vier Triebwerke. Der Lilium Jet hat ganze 30 Triebwerke, die über seine Tragflächen und vorderen Flügel verteilt sind.
Auch bei dieser Entscheidung war die Effizienz ausschlaggebend. „Große Triebwerke müssen in einer unter den Tragflächen hängenden Gondel montiert werden“, erklärt Wiegand. „Dadurch erhöhen sich Gewicht und Luftwiderstand. Wir haben stattdessen die erforderliche Antriebsleistung auf viele kleine Triebwerke aufgeteilt. Das ist möglich, weil es sich um ein elektrisches Antriebssystem handelt, das sich maßstabsgerecht an verschiedene Größen mit der gleichen Effizienz anpassen lässt.“
Der Einbau kleiner Triebwerke in die Flügel reduziert den Luftwiderstand und spart viel Gewicht. „Die Oberfläche unserer Triebwerksgondeln ist Teil des Flügels“, so Wiegand. „Sie erzeugen Auftrieb für das Flugzeug.“
Hybridlösung für Langlebigkeit
Das schnell rotierende Herzstück eines jeden Lilium-Elektrostrahltriebwerks dreht sich auf zwei Lagern. Das eine befindet sich direkt hinter dem Fan und das andere auf der Rückseite des Triebwerks. Wie bei allen anderen Komponenten wollten die Ingenieure von Lilium auch die Größe dieser Lager auf ein Minimum reduzieren, um eine möglichst leichte und kompakte Konstruktion zu schaffen.
Prototyp-Triebwerke arbeiteten mit Standardlagern. Aber das Lilium-Team war sich stets darüber bewusst, dass andere Versionen eine Sonderlösung erfordern würden. „Unsere Anforderungen an die Lager waren klar“, betont Wiegand. „Wir benötigen eine sehr effiziente Einheit zur Minimierung von Leistungsverlusten und Hitzeentwicklung. Wir haben weder Ölschmierung noch Kühlsystem. Das heißt, die Lager müssen mit Fettschmierung und Luftkühlung auskommen. Außerdem gehen wir nicht davon aus, dass unsere Triebwerke regelmäßig ausgetauscht werden müssen. Deshalb sollten die Lager über die gesamte Lebensdauer des Flugzeugs einwandfrei funktionieren.“
Die Suche nach einem Produkt, das all diese Anforderungen erfüllte, führte Lilium vor etwa drei Jahren zu SKF. Seitdem arbeiten die beiden Unternehmen an der Weiterentwicklung einer Konstruktion, die Liliums sämtlichen Wünschen gerecht wird. Durch Berechnungen, Simulationen und physische Tests fand SKF schließlich eine robuste Lagerlösung, die den anspruchsvollen Erfordernissen im Hinblick auf Effizienz und Langlebigkeit Rechnung tragen und Schock- und Vibrationstests standhalten würde.
In Liliums Hauptsitz in Bayern wird zurzeit ein Hybrid-Rillenkugellager mit Stahlringen und Keramik-Wälzkörpern auf dem Prüfstand getestet. Für die Schmierung wird ein hoch entwickeltes Fett verwendet, das für hohe Temperaturen und Drehzahlen ausgelegt ist. Sorgfältig ausgewählte Dichtungen schützen die Umwelt und verhindern das Austreten von Schmierfett in jeder Lage – ob in horizontaler beim Normalflug oder in vertikaler bei Start- und Landemanövern.
Am Start
Lilium begann Ende 2023 mit dem Bau des ersten Lilium Jets und ist nun für den ersten bemannten Flug bereit. Die Lager von SKF sind nur eines von tausenden serientauglicher Komponenten, die Lilium in seinem Musterflugzeug verbaut. Dieses sowie sechs weitere Modelle, die folgen sollen, werden dann in einem 18-monatigen Flugerprobungsprogramm umfassend getestet.
Nach 1.000 Flugstunden zum Nachweis der Konformität sollen die ersten Maschinen Anfang 2026 an Abnehmer ausgeliefert werden. Lilium hat bereits Vorbestellungen für über 700 Flugzeuge, davon 106 bestätigte Aufträge und verbindliche Reservierungen.
Es bleibt noch viel zu tun. Aber als leitender Ingenieur für Innovation und Zukunftsprogramme beschäftigt sich Wiegand bereits mit den Entwicklungen jenseits des Lilium Jets. Er ist davon überzeugt, dass durch Verbesserungen in der Batterie- und Triebwerkstechnik schon bald auch größere Flugzeuge elektrisch angetrieben werden können.
„Alle suchen nach Wegen, um den Flugverkehr zu dekarbonisieren“, betont er und fügt hinzu, andere mögliche Ansätze wie E-Fuels oder grüner Wasserstoff haben die Probleme der Klimaauswirkungen nur zur Hälfte gelöst, weil sie die Kondensstreifenbildung durch Emissionen in großer Höhe und die dadurch entstehenden Wolken nicht berücksichtigen.
„Die Batterietechnik verbessert sich jedes Jahr um fünf bis sechs Prozent“, schaut Daniel Wiegand in die Zukunft. „In den kommenden 15 bis 20 Jahren werden wir in der Lage sein, ein konventionelles Elektroflugzeug mit 80 Sitzen und einer Reichweite von über 2.000 Kilometern zu bauen. Dadurch könnten weltweit 80 Prozent der kommerziellen Flüge durch diese geräuschärmere und sauberere Technologie ersetzt werden.“