Angewandte Wissenschaft

Immer häufiger verwischen die Grenzen zwischen Grundlagenforschung und angewandter Wissenschaft, nicht zuletzt, weil dieselbe Forschergemeinschaft oftmals an Projekten beiderlei Art beteiligt istBetrieb der italienische Mathematiker, Physiker und Astronom Galileo Galilei im 17. Jahrhundert Grundlagenforschung oder angewandte Wissenschaft? Solche neuzeitliche Begriffe waren damals noch unbekannt, heute dagegen dienen sie vielfach zur Charakterisierung – und Unterscheidung – eines Großteils der geleisteten Forschungsarbeit.

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Immer häufiger verwischen die Grenzen zwischen Grundlagenforschung und angewandter Wissenschaft, nicht zuletzt, weil dieselbe Forschergemeinschaft oftmals an Projekten beiderlei Art beteiligt istBetrieb der italienische Mathematiker, Physiker und Astronom Galileo Galilei im 17. Jahrhundert Grundlagenforschung oder angewandte Wissenschaft? Solche neuzeitliche Begriffe waren damals noch unbekannt, heute dagegen dienen sie vielfach zur Charakterisierung – und Unterscheidung – eines Großteils der geleisteten Forschungsarbeit.

Als Galilei eine kurz zuvor in Holland gemachte Entdeckung aufgriff und 1609 ein Teleskop mit zehnfacher Vergrößerung schuf, betrieb er nach heutigen Maßstäben „angewandte Wissenschaft“. Als er jedoch dann im Jahre 1610 mit seinem nun dreißigfach vergrößernden Teleskop die ersten Jupitermonde ausmachte und dabei unwiderlegbare Beweise für das kopernikanische Weltsystem fand, welches anstatt der Erde die Sonne in den Mittelpunkt des Universums rückte, beschäftigte er sich mit einer Thematik, die man heute eher der „Grundlagenforschung“ zuordnen würde. Als er in der Folge die Bahnbewegung der Jupitermonde vermaß und eine Möglichkeit entwickelte, diese Messungen zur Navigation zu nutzen, betrat er wieder das Reich der angewandten Wissenschaft.

David Nordfors, Berater und Projektmanager bei der schwedischen Behörde für Innovationssysteme Vinnova führt diese Geschichte als Beispiel dafür an, wie Grundlagen- und angewandte Forschung, mögen sie sich auch in vielerlei Hinsicht unterscheiden, bei der Gewinnung wissenschaftlicher Erkenntnisse immer wieder ineinander übergehen.

„Tatsächlich erweist sich Grundlagenforschung mitunter von unmittelbarem Nutzwert, und auf der anderen Seite gibt es Vertreter der angewandten Forschung, die eine Spur einfach aus Interesse verfolgen oder, weil sich ihnen ein interessantes Problem in den Weg stellt“, meint Nordfors. „Grundsätzlich jedoch besteht das Ziel angewandter Forschung darin, Bedingungen zu schaffen, die über kurz oder lang zur Entwicklung eines Produkts oder einer Dienstleistung führen.“

Den National Academies of the United States zufolge besteht Grundlagenforschung in theoretischen oder experimentellen Betrachtungen zur Gewinnung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse, ohne dass dabei der unmittelbare praktische Nutzen im Vordergrund stünde.

Angewandte Forschung macht sich auf theoretischem oder experimentellem Wege gewonnenes Wissen zur Herstellung von Dingen oder zur Schaffung von Bedingungen zunutze, die einem praktischen Zweck dienen. In der Mikroelektronik, der Informations- und Kommunikationstechnologie, der Pharmakologie und im Transportwesen, um nur ein paar Beispiele zu nennen, ist bei der Suche nach neuen Produkten und Prozessen angewandte Forschung unverzichtbar.

Grundlagen- und angewandte Forschung unterscheiden sich auch von der Produktentwicklung, die sich als Aktivität definiert, welche sich systematisch und methodisch Forschungsergebnisse und wissenschaftliche Erkenntnisse zur Erzielung neuer Produkte zunutze macht. Während indes manche Produktentwicklung wie etwa CD-Spieler und Mikrowellenherde auf wissenschaftlicher Forschung aufbaut, zielen andere Formen der Produktentwicklung einfach auf die Herstellung eines Produkts wie etwa die eines Paares Schuhe oder eines Spielzeugs.

Produktentwicklung

Die Erfindung hat mit der Produktentwicklung gemein, dass es hier wie dort in erster Linie darum geht, eine Lösung zu finden oder ein Produkt zu erschaffen, und nicht so sehr, eine Theorie zu beweisen oder einen Effekt zu zeigen – Ziele, die sowohl bei der Grundlagen- als auch in der angewandten Forschung im Mittelpunkt stehen. Auch können anders als in der wissenschaftlichen Forschung Erfindungen von jedermann, unabhängig von dessen Ausbildung oder Schulung, geleistet werden.

David Nordfors von Vinnova hat sich über diese Unterscheidung ein paar Gedanken gemacht. Nach seiner Beschreibung strebt angewandte Forschung danach, Teil von etwas zu sein, das er als „Innovationssystem“ bezeichnet: der Interaktion zwischen denjenigen, die dazu benötigt werden, eine Idee in ein marktgängiges Produkt zu verwandeln – eine Zielsetzung, welche die Grundlagenforschung nicht teilt.

Die Wissenschaftsgemeinschaft besteht aus Forschern sowohl in der Grundlagen- als auch in der angewandten Forschung. Ihre Arbeit überschneidet und befruchtet sich gegenseitig. Als Musterbeispiel nennt Nordfors die international betriebene Forschung zur vollständigen Beschreibung des genetischen Materials des Menschen auf dem Wege der lückenlosen Bestimmung der DNA-Sequenz im Humangenom. Fernziel ist die Untersuchung und Aufzeichnung sämtlicher der über 30.000 menschlichen Gene und ihre Verfügbarmachung für weiter gehende biologische Studien. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse sollen dann wiederum in der angewandten Forschung genutzt werden, auf den Gebieten der Medizin und der Entwicklung von Arzneimitteln. In diesem Fall ist es schwierig, allein anhand des Blicks auf das Endergebnis eine deutliche Unterscheidung zwischen Grundlagen- und angewandter Forschung zu treffen. Ob Forscher nun ihre Arbeit mit dem Etikett „grundlegend“ oder „angewandt“ versehen, spiegelt eher ihr Selbstverständnis wider und, wie sehr sie bestrebt sind, mit dem Innovationssystem zu interagieren.

Annäherung

Wie Galilei entzieht sich auch Dan Shechtman, Professor für Werkstofftechnik am Technion im israelischen Haifa einer einfachen Einordnung. 1984 führte Shechtmans Entdeckung der Quasikristalle zu einem gänzlich neuen Kristallbegriff. Wie er erklärt, sei, was als Grundlagenforschung begann, heute weitgehend angewandt, nachdem weitere Untersuchungen an Quasikristallen gezeigt haben, dass diese in der Natur häuvorkommen: Sie sind hart, reibungslos oder reibungsarm und nichthaftend wie PTFE (polytetrafluorethylen), sodass sie sich beispielweise zur Beschichtung von Bratpfannen aus Aluminium praktisch nutzen lassen.

„Grundlagen- und angewandte Wissenschaft nähern sich einander immer mehr an“, spricht die Erfahrung aus Shechtman. „Mitarbeiter in der angewandten Forschung müssen mit den Grundlagen vertraut sein. Oft handelt es sich um die gleiche Gemeinschaft von Wissenschaftlern, die hier zusammen arbeitet.“

„Der Weg vom grundlegenden wissenschaftlichen Verständnis zur Schaffung eines auf dem Markt verwertbaren Produkts wird immer kürzer“, fährt er fort, „in erster Linie wegen der großen Nachfrage des Marktes nach neuen und besseren Produkten oder optimierten Werkzeugen, die gleich mehrere Funktionen erfüllen. Forscher und Industrie kommen sich dabei in dem Maße immer näher, wie erstere das Potential erkennen, das sich durch Partnerschaften mit der Privatwirtschaft erschließen lässt, und letztere begreift, welchen Erfahrungsschatz die Wissenschaftsgemeinschaft birgt.“

Tatsächlich ist ein Gutteil der angewandten Forschung heute bereits privatwirtschaftlich finanziert und findet in zahlreichen Großunternehmen statt. Dem Problem, dass sich kleinere Betriebe angewandte Forschung oftmals nicht leisten können, versuchen Organisationen wie die staatlich finanzierte schwedische Vinnova durch finanzielle Unterstützung zu begegnen. Weltweit wird die angewandte Forschung ebenso wie die Grundlagenforschung weiterhin staatlich und durch Universitäten finanziert.

Wirtschaftliche Attraktivität

Grundlagenforschung ist ebenso wie die angewandte Forschung für deutliche Fortschritte in der Entwicklung der Menschheit unverzichtbar. Der Unterschied besteht im Wesentlichen darin, dass angewandte Forschung auf dem Wege einer systematischen und methodischen Suche nach neuen Erkenntnissen und Ideen auf die unmittelbare Anwendbarkeit zielt. Aus der Perspektive der unternehmerischen Praxis liegt hierin ein besonderer Reiz.

„Angewandte Forschung setzt voraus, dass sowohl ein Bedarf als auch ein Potential bestehen, etwas mit dem Wissen anfangen zu können“, so noch einmal Nordfors. „Es muss die Aussicht bestehen, die Erkenntnis in eine praktische Anwendung zu überführen. Dies ist das Wesen von Innovation.“

Amy Brown

Wirtschaftsjournalistin in Stockholm

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