Binnenschifffahrt auf hohem Niveau

Die Lösung war das Schiffshebewerk Strépy-Thieu. Das Hebewerk, das sich wie ein futuristisches Denkmal der Transporttechnik erhebt, dominiert das Landschaftsbild und ist das Ergebnis vieler Jahre sorgfältiger Planung und fachmännischer Arbeit.

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Es sieht aus wie ein Tempel, ist aber ein 73 Meter hohes Schiffshebewerk, das Belgiens Transportwesen um völlig neue Möglichkeiten bereichern wird. Das Hebewerk leistet einen wichtigen Beitrag zum Bau eines Wassertransportsystems,
das Industrie und Tourismus Vorteile bringen wird
Anfang der fünfziger Jahre begann Belgien mit der Modernisierung seiner Binnenwasserwege, um die Anforderungen einer modernen gewerblichen Kanalschifffahrt zu erfüllen. Bis 1963 war man bis zum Canal du Centre vorgedrungen, der sich 18,6 Kilometer von La Louvière bis nach Mons in der Region Wallonien erstreckt und verschiedene europäische Städte mit der Nordsee verbindet. Die Techniker standen jedoch vor einem äußerst ungewöhnlichen Problem: ein Höhenunterschied von über 70 Metern zwischen den Schelde-Becken und den Maas-Flussarmen.

Die Lösung war das Schiffshebewerk Strépy-Thieu. Das Hebewerk, das sich wie ein futuristisches Denkmal der Transporttechnik erhebt, dominiert das Landschaftsbild und ist das Ergebnis vieler Jahre sorgfältiger Planung und fachmännischer Arbeit.

Bis 1963 konnten auf dieser reizvollen Kanalstrecke nur Schiffe bis maximal 300 Tonnen verkehren. Den Höhenunterschied bewältigten zwei Schleusen und vier hydraulische Hebewerke aus dem 19. Jahrhundert. Jedes dieser 17 Meter hohen Hebewerke ist ein Paradebeispiel für eine einfache technische Lösung bestehend aus einem Ausgleichgewichtssystem, das allein durch Wasserkraft funktioniert.

Da sich der Kanal jedoch in engen Kurven durch dieses dicht besiedelte Gebiet schlängelte, erwies sich ein Ausbau als unmöglich, weswegen ein neuer Kanal parallel zu der alten Wasserstraße gegraben werden musste. Er sollte eine Breite erhalten, die sowohl den neuen 1.350-Tonnen-Europaschiffen als auch den herkömmlichen 300-Tonnen-Schiffen die Durchfahrt ermöglichen würde.

Vielfältige Partnerschaft

Angesichts der Größe des Projektes vergab die belgische Regierung den Auftrag an Ascacentre, ein Konsortium aus acht Unternehmen, die sich eigens für dieses Projekt zusammengeschlossen hatten. Zur Überwindung des Höhenunterschieds wurden verschiedene Projektvorschläge unterbreitet. Nach ausgiebigen Studien, bei denen die verschiedenen Lösungen einander gegenüber gestellt wurden, wählten die Experten schließlich aus technischen und finanziellen Gründen ein revolutionäres, 73 Meter hohes Hebewerk mit zwei separaten Trögen.

Die Arbeiten am Schiffshebewerk Strépy-Thieu begannen 1982 und sind jetzt nahezu abgeschlossen. Diese bemerkenswerte Konstruktion ist mit ihren 130 Metern Länge, 81 Metern Breite und 117 Metern Höhe extrem einfach. Sowohl die gewerbliche Schifffahrt als auch Touristikboote erreichen Strépy-Thieu entweder über das 200 Meter lange Aquädukt flussaufwärts oder über den Kanal flussabwärts. Zwei separate, mit Wasser gefüllte Tröge, von denen jeder 8.000 Tonnen schwer, 112 Meter lang, zwölf Meter breit und acht Meter tief ist, bringen die auf dem Kanal verkehrenden Schiffe auf das jeweils andere Niveau. Jeder Trog kann ein 1.350-Tonnen-Schiff in sechs Minuten über eine vertikale Distanz von 73 Metern befördern, und zwar mit einer Geschwindigkeit von 20 Zentimetern pro Sekunde. Die gesamte Prozedur dauert einschließlich sämtlicher Sicherheitsüberprüfungen nur 40 Minuten. Früher brauchten die Schiffe auf dem alten Kanal für dieselbe Distanz fünf Stunden.

Auf der Oberseite der Konstruktion befindet sich der Maschinenraum mit der gesamten elektromechanischen Ausrüstung, die für das Heben der Tröge benötigt wird. Jeder Trog hängt an 144 Gurten, von denen 112 Hängegurte sind – acht Gruppen zu jeweils 14 Gurten. Jede Gruppe ist über einen Rollenzug mit einem 800-Tonnen-Gegengewicht verbunden ist. Die restlichen 32 Gurte dienen der Steuerung.

Ungewöhnliche Größe

Die Tröge werden nach einem simplen System auf- und abbewegt, ähnlich dem eines gewöhnlichen Personenaufzugs, nur in wesentlich größerem Ausmaß. „Alles an diesem Projekt gab es bereits, das einzig wirklich ungewöhnliche an der Konstruktion ist ihre Größe“, erzählt Gustaaf Mampaey, ein Hoch- und Tiefbauingenieur des wallonischen Transportministeriums.

Auch meteorologische und geologische Aspekte mussten beim Bau von Strépy-Thieu berücksichtigt werden, wie Henri Brouet, leitender Hoch- und Tiefbauingenieur beim Ministerium erklärt: „Wir befinden uns in einem Gebiet, das oft starken Winden ausgesetzt ist. In den letzten Jahren hat es in Belgien sogar kleinere Tornados gegeben. Auch Erdbeben kommen in dieser geographischen Zone vor. Deshalb wurde das Hebewerk so gebaut, dass es den möglichen Auswirkungen standhält.“

Investoren und Touristen

Das Schiffshebewerk leistet einen wesentlichen Beitrag zur wallonischen Wirtschaft. Die Transportkapazität des neuen Kanals wird auf 10 Millionen Tonnen pro Jahr geschätzt. Verglichen damit bewältigte die alte Wasserstraße ein Transportvolumen zwischen 500.000 und eine Millionen Tonnen. „Solch bedeutende Infrastrukturprojekte wie dieses lockt Investoren in unsere Region“, meint Brouet. Der Gütertransport auf dem Wasser ist grundsätzlich auch eine „grüne“ Alternative zu weniger umweltfreundlichen Transportmöglichkeiten.

„Ein 1.350-Tonnen-Schiff fasst einen 3,5 Kilometer langen Lkw-Konvoi. Außerdem ist das Schiff als Transportmittel nicht denselben Begrenzungen ausgesetzt. Wir können doppelt oder dreimal so viele Schiffe einsetzen. Wasser ist der Transportweg der Zukunft.“

Ascacentres Vertrag umfasst nicht nur den Bau des Hebewerks, sondern auch der Anschlüsse flussaufwärts und -abwärts. Etwas mehr als die Hälfte der für das Projekt veranschlagten 25 Milliarden Belgischen Francs (1,2 Milliarden Mark oder 620 Millionen Euro) finanzierte der belgische Staat. Weitere sieben Milliarden Belgische Francs zahlte die wallonische Kommunalregierung, und für die restlichen fünf Milliarden gewährte Sofico, eine Gesellschaft zur Finanzierung von Infrastrukturprojekten in der französisch sprechenden Region Belgiens, ein Darlehen.

Die Europäische Union schoss weitere 42,5 Millionen belgische Francs zu, um den Ort als Touristenattraktion auszubauen. Das Hebewerk ist mit einer Aussichtsplattform ausgestattet, zu der Besucher mit einem Aufzug hochfahren können. Von hier aus hat man einen phantastischen Ausblick auf die wallonische Landschaft. Darüber hinaus gibt es die Möglichkeit, sich in einer Ausstellung, von der aus man den Maschinenraum überblickt, näher über die Konstruktion zu informieren. „Das neue Hebewerk wird nicht nur die Industrie begünstigen, sondern auch den Tourismus“, so Brouet. Gleichzeitig ziehen aber auch die historischen Hebewerke des alten Kanals, die die UNESCO kürzlich auf ihre Liste des Weltkulturerbes gesetzt hat, Touristen an.
Das Projekt ist nahezu abgeschlossen. Nur noch wenige Aufgaben stehen aus, darunter die Innenausstattung des Turms und die Besucherbereiche. Die Einweihung des Hebewerks ist für Mai dieses Jahres vorgesehen. Der modernisierte Kanal soll im Jahr 2001 schiffbar sein.

Anna McQueen

Journalistin in Paris

Foto Ian Sanderson

 

 

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