Der Zug am Ende der Welt
Die Fahrt ans Ende der Welt soll um weitere neun Kilometer verlängert werden
Drei schrille Pfeiftöne von einer Dampflok stören die Morgenstille der kühlen patagonischen Bergwelt und lassen die zahlreichen Touristen, die in den hübschen holzverkleideten Eisenbahnwagen ungeduldig auf die Abfahrt warten, vor Aufregung erschaudern.
„Jetzt geht es los“, kichert Milca Chiavarina, 67, aus Buenos Aires, als der „Zug am Ende der Welt“ seine Bummelfahrt in den argentinischen Nationalpark Tierra del Fuego antritt. Es handelt sich um die letzten sechs Kilometer einer Eisenbahnstrecke, die vor 100 Jahren der Beförderung von Strafgefangenen diente. Sie wurden in offenen Güterwagen in diese Gegend gebracht, um Holz zu fällen. Die Aktion war Teil des offiziellen Plans zur Errichtung der acht Kilometer entfernten Stadt Ushuaia.
Heute erinnern die weiten Flächen mit knorrigen Baumstümpfen an die Hunderte von Gefangenen, die hier unter den wachsamen Augen von bewaffneten Wärtern Bäume fällten. Der Gefängniszug, wie er genannt wurde, verkehrte zwischen 1896 und 1947.
„Der Vater einer Freundin von mir war hier Wärter“, erzählt Chiavarina. „Ich kann mir gut vorstellen, wie er auf einem dieser Berge stand und seine Befehle brüllte.“
Touristenattraktion
Der Zug spielt immer noch eine wichtige Rolle für die Zukunft von Ushuaia, der südlichsten Stadt der Erde. Der Tourismus ist hier eine der wenigen Wachstumsbranchen in dieser wirtschaftlichen Krisenregion. Jedes Jahr kommen etwa 100.000 Besucher in die Stadt, und nahezu die Hälfte von ihnen fahren mit dem „Zug am Ende der Welt“.
„Es ist wirklich eine phantastische Fahrt“, sagt der spanische Tourist Francesc Gomes (28). „Die Landschaft ist wunderbar.“ Trotz der Kürze der Strecke bekommen die Reisenden malerische Täler mit grasenden Pferden, Flüsse voller Hochlandgänse und moosbedeckte Wälder zu sehen – und das alles vor der majestätischen Kulisse einer schneebedeckten Gebirgskette.
„Wir hatten schon mehrere Präsidenten hier“, berichtet Marcelo Lietti, Geschäftsführer von Tranex Turismo S.A., „und Schriftsteller wie etwa Ernesto Sabato. Auch der argentinische Tourismusminister gab uns einmal die Ehre. Er dinierte an seinem Hochzeitstag im Präsidentenwagen.“ Tranex Turismo besitzt und betreibt die Ferrocarril Austral Fueguino, wie dieser Zug am Südzipfel der Welt offiziell genannt wird.
Für den „Zug am Ende der Welt“ stehen zwei Dampfloks und drei Dieselloks zur Verfügung. Er hat schon Zehntausende von Touristen befördert – von buddhistischen Mönchen und kanadischen Geschäftsleuten bis zu amerikanischen Rentnern –, nicht selten bei Schnee, Wind und Kälte.
Ermutigt durch eine 70-prozentige Steigerung der Einkünfte im Vergleich zu 2001 plant Tranex Turismo S.A. jetzt einen Ausbau der Gleise um weitere neun Kilometer. Auf diese Weise könnten die pittoresken Dampfloks bis in die Stadt Ushuaia hineinfahren, in der jedes Jahr 140 Kreuzfahrtschiffe anlegen.
„Der Gedanke, bis ans Ende der Welt zu fahren, ist enorm attraktiv und viele Leute fragen danach“, meint Lietti.
So war es jedoch nicht immer. Als Tranex Turismo den Betrieb der Zugstrecke 1994 übernahm, reichten die Einnahmen aus dem Fahrkartenverkauf gerade, um die Züge zu reparieren und aufzurüsten. Einige Unternehmen beschlossen, Tranex zu sponsern. So stellt etwa die argentinische Kraftstoffgesellschaft YPF kostenlos Dieselöl für die Lokomotiven zur Verfügung, das Kreditkartenunternehmen Visa gewährte Tranex Rabatte und der Telekom-Riese ATT versorgt das Unternehmen mit Artikeln wie Postkarten und Tickets.
„Erst seit zwei Jahren sind wir in der Lage, finanziell etwas aufzuatmen“, so Lietti.
Neue Gleise
Die nächste große Aufgabe wird also darin bestehen, Gleise bis nach Ushuaia zu verlegen. Dadurch soll die Fahrt interessanter werden, vor allem aber erhält man auf diese Weise Zugang zu den Kreuzfahrttouristen, bei denen es sich oft um ältere Leute handelt. Neben den Gleisbauarbeiten umfasst das Projekt Konstruktion und Bau einer Dampflok des 21. Jahrhunderts, die speziell auf die Wünsche von Tranex Tourismo zugeschnitten sein soll.
„Wir wollen, dass alle bewährten Neuerungen in der Dampflok-Technologie in diese Lok integriert werden“, erklärt der technische Leiter, Shaun McMahon. Der stille Mann mit Brille begann seine Laufbahn bei der Eisenbahn bereits im Alter von 13 Jahren, und zwar als Zugreiniger in Wales. Als er 14 Jahre alt war, hatte er schon das erste Mal eine Lok auf dem Betriebshof gefahren.
McMahon kann die Spezifikationen und technischen Anforderungen sämtlicher fünf Loks, die zurzeit auf der Strecke im Einsatz sind, auswendig herunterbeten. Für Außenstehende ist jedoch der Führerstand einer Dampflok ein erschreckendes Wirrwarr aus Schaltern, Tastenfeldern und Knöpfen.
„Ich habe etwa zwei Monate gebraucht, bis ich mir die Grundkenntnisse zum Fahren einer Dampflok angeeignet hatte, aber ich glaube, ich werde niemals alles lernen“, sagt der argentinische Lokführer, Avelino Gonzales, als er sich neben seiner Lok für ein Touristenphoto aufstellt.
McMahons Aufgabe ist, die Loks und den Fahrzeugpark so in Schuss zu halten, dass Reparaturen auf ein Minimum begrenzt bleiben. „Was wir brauchen, sind Züge auf dem technischen Stand von heute mit modernen Komponenten, die jederzeit verfügbar sind“, meint McMahon abschließend. „Das wird alles viel einfacher machen.“
Parallel zum Ausbau der Eisenbahnstrecke wächst auch die Stadt, an die das Schienennetz angeschlossen werden soll. Von 1991 bis heute ist die Bevölkerung von Ushuaia um 70 Prozent auf über 50.000 Einwohner angewachsen.
„Ushuaia ist eine rasch expandierende Stadt und Tranex Turismo ein rasch expandierendes Unternehmen“, so McMahon. „Wir entwickeln uns in dieselbe Richtung und ergänzen einander in jeder Hinsicht.“