Eine unmögliche Aufgabe
Don Quijote kämpfte gegen Windmühlen. Die Ingenieure von Alfa Romeo taten etwas Ähnliches, als sie die Normen der Premium-Kategorie auf den Kopf stellten. Das Ergebnis? Die Alfa Romeo Giulia, die im Juni 2015 der Öffentlichkeit vorgestellt wurde.
FCA Group
Entstand am 12. Oktober 2014 aus der Fusion zwischen dem italienischen Automobilhersteller Fiat, gegründet 1899, und dem amerikanischen Automobilbauer Chrysler, gegründet 1925.
An der New York Stock Exchange sowie an der italienischen Börse (Borsa Italiana) gelistet.
Hauptsitz in London; italienischer Firmensitz in Turin; US-Firmensitz unter dem Dach der Chrysler Group in Auburn Hills im US-Bundesstaat Michigan.
FCA ist der siebtgrößte Automobilhersteller der Welt und umfasst die Marken Alfa Romeo, Maserati, Chrysler, Dodge, Fiat, Fiat Professional, Jeep, Lancia, Ram Trucks, Abarth, Mopar und SRT. Zum Konzern gehören auch die Industrielieferanten Comau, Magneti Marelli und Teksid.
Circa 238.000 Mitarbeiter weltweit
Globale Umsatzerlöse 110,6 Milliarden Euro (2015)
Biscione bedeutet auf Italienisch „Schlange“. Autoliebhaber in aller Welt denken bei „biscione“ aber auch an die italienische Automarke Alfa Romeo, denn die Schlange ist schon seit der Firmengründung 1910 im Logo des Unternehmens zu finden.
Obwohl der kommerzielle Erfolg des Autoherstellers in den letzten Jahren sehr schwankte, verblasste sein Ruf als Produzent von atemberaubenden Sportwagen nie. Deshalb konnte Sergio Marchionne, CEO der heutigen FCA Group, zu der Alfa Romeo gehört, auch aus mehr als 100 Jahren Erfahrung schöpfen, als er 2013 den Neustart der Marke beschloss.
Marchionne setzte sich ein ehrgeiziges Ziel: Alfa Romeos Absatz sollte bis 2018 auf 400.000 Fahrzeuge ansteigen. 2013 waren nicht mehr als 74.000 Wagen verkauft worden. Dieses Ziel in so kurzer Zeit zu erreichen, bezeichneten viele als „Don Quijote-Aufgabe“, sagt Valerio Bisogno, Chefingenieur für die Alfa Romeo Giulia, das erste Modell, das im Rahmen dieses Programms entwickelt wurde.
Der Gesamteindruck in puncto Bedienbarkeit, Steuerung, Bremsleistung und Komfort bleibt gleich, egal, welche Motorgröße der Wagen hat.
Valerio Bisogno, Alfa Romeo
Um die Initiative geheim zu halten, erhielt das Projekt den Codenamen Giorgio. Die darauf angesetzten Ingenieure wurden so effektiv vom restlichen Fiat-Konzern abgeschottet, dass vor der Einführung der Giulia am 24. Juli 2015 keine Informationen an die Öffentlichkeit gelangten.
„Mission Impossible“ erfolgreich abgeschlossen
2013 wandte sich Alfa Romeo mit einem ambitionierten Projekt, das unter dem Codenamen Giorgio lief, an SKF. Zunächst schien es wie eine „Mission Impossible“. Die Herausforderung bestand darin, spezielle Lager für ein von Grund auf neu konzipiertes Auto zu entwickeln. Die Radlager sollten angesichts des sportlichen Images der Marke besonders leicht sein, aber dennoch die nötige Steifigkeit aufweisen, um Vibrationen und Geräusche auf ein Minimum zu reduzieren. „Hinzu kam die extrem kurze Entwicklungszeit, die uns zur Verfügung stand“, erinnert sich Andrea Reisoli-Matthieu, der bei SKF als globaler Kundenbetreuer für die FCA Group zuständig ist.
Aufgrund der langjährigen Beziehung zu Fiat und Ferrari unterzeichnete SKF schließlich im November 2014 den Vertrag. Am 24. Juni 2015 wurde die neue Alfa Romeo Giulia der Presse vorgestellt.
Es galt, zwei Herausforderungen zu bewältigen:
Zum einen waren da die technischen Anforderungen an die Lager. Es ging um drei verschiedene Lagerlösungen – Lager für die Vorder- und Hinterräder sowie eine spezielle Hinterradlagerkonstruktion für das 375-kW-Hochleistungsmodell Quadrifoglio.
Zum anderen musste sichergestellt werden, dass bis zu 1,6 Millionen Lager pro Jahr für den Kunden gefertigt werden konnten.
SKF nutzte das bei Ferrari erworbene Know-how als Ausgangspunkt für die technischen Spezifikationen der neuen Radlager. Das größere Problem war die Einrichtung einer völlig neuen Produktionslinie in Rekordzeit. Am Ende konnte die „Mission Impossible“ jedoch erfüllt werden. „Wir lieferten unsere Lager frist- und spezifikationsgerecht“, sagt Reisoli-Matthieu.
Don Quijote kämpfte gegen Windmühlen. Die Ingenieure des Giorgio-Projekts taten etwas Ähnliches, als sie alle für die Premium-Kategorie geltenden Normen auf den Kopf stellten. „Um die gewünschte Leistung zu erzielen, mussten wir das gesamte Fahrzeugkonzept neu überdenken“, erinnert sich Bisogno. Sie begannen mit einem leeren Blatt Papier und schrieben alles auf, was Alfa Romeo ihrer Meinung nach 2013 war und was die Marke werden sollte. Schon früh beschloss man, den bestehenden Geschwindigkeitsrekord auf dem berühmt-berüchtigten Nürburgring brechen zu wollen.
Gleichzeitig war sich das Team darüber im Klaren, dass die meisten potenziellen Käufer keine eingefleischten Alfa Romeo-Fans sein würden, sondern vermutlich normale Autofahrer, die auf Fahrkomfort nicht verzichten wollten.
Kraftstoffeffizienz war ebenfalls ein Anliegen. Die Ingenieure erkannten, dass der Motor von Grund auf neu konzipiert werden musste. Alle Antriebsoptionen der Alfa Romeo Giulia sind neu, angefangen mit der Spitzenversion, dem in Längsrichtung eingebauten Sechszylinder-Biturbomotor, der 375 Kilowatt auf die Hinterräder bringt. Für Kraftstoffeffizienz sorgt die Zylinderdeaktivierung, also die Möglichkeit, drei der sechs Zylinder abzuschalten, beispielsweise im Stadtverkehr.
Weitere Innovationen sind die vordere AlfaLink-Aufhängung aus Aluminium mit doppelten Querlenkern, der verstellbare Carbon-Frontspoiler, das integrierte Bremssystem, die Kardanwelle aus Kohlefaser, ein Torque-Vectoring-System sowie Alfa D.N.A., eine Vier-Stufen-Fahrdynamikregelung, mit der der Fahrer Ansprechverhalten, Schaltgeschwindigkeiten und Straßenhaftung an einen der vier Betriebsmodi „Efficiency“, „Natural“, „Dynamic“ und „Race“ anpassen kann. Der Modus „Race“ neutralisiert diverse Fahrerassistenzsysteme und sollte nur von geübten Fahrern, vorzugsweise auf einer Rennstrecke, gewählt werden.
Alle diese Systeme basieren auf komplexen Algorithmen, die im eigenen Unternehmen entwickelt wurden, sagt Bisogno und fügt hinzu, dass es in der Alfa Romeo Giulia mit 40 Millionen mehr Codezeilen als in einem Boeing-Flugzeug gebe. Durch Ineinandergreifen der Systeme lässt sich voraussagen, was der Fahrer zu tun beabsichtigt, so dass mögliche Fehler bereits im Vorfeld korrigiert werden können. Der Fahrer merkt davon nichts, sondern nimmt nur ein gut funktionierendes, reaktionsschnelles Fahrzeug wahr.
Die Giulia stellte die gesamte Automobilentwicklung buchstäblich auf den Kopf. Statt mit einem Basismodell anzufangen und dann weitere Eigenschaften hinzuzufügen, so wie es der Branchennorm entspricht, begannen die Ingenieure des Giorgio-Projekts mit dem Spitzenmodell der Giulia-Reihe, dem Quadrifoglio. „Wir konzentrierten uns direkt auf die Top-End-Leistung, weil wir so bis hinab zu den einfacheren Modellen ungeachtet der PS-Zahl ein höheres Leistungsniveau erzielen konnten“, erklärt Bisogno. „Der Gesamteindruck in puncto Bedienbarkeit, Steuerung, Bremsleistung und Komfort bleibt gleich, egal, welche Motorgröße der Wagen hat.“
Handel und Öffentlichkeit reagierten sehr positiv auf die Giulia. Ende 2016 hatte sie bereits 26 Auszeichnungen von großen europäischen Fachzeitschriften erhalten, allein sieben davon in Deutschland. Bisogno und sein Team sind besonders stolz darauf, dass sie ohne die üblichen Slogans von Design, Leidenschaft und „Made in Italy“ ausgekommen sind, die von italienischen Automobilherstellern immer wieder gerne verwendet werden.
Und ein Meilenstein wurde bereits erreicht: Die Giulia schnitt mit einer Leistung von 375 kW, einer Beschleunigung von 0 auf 100 km in 3,9 Sekunden und einer Rekordzeit von 7,32 Minuten für eine Nürburgring-Runde als bestes Modell ihrer Klasse ab.
„Wir sind von der technischen Überlegenheit unseres Produkts überzeugt“, schwärmt Giulias Chefingenieur.