Graue Zellen ohne Grenzen

Deborah Wise

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Es ist Mittagszeit im Hreod Parkway Gymnasium in Swindon im Westen von London. 35 Schüler mit unterschiedlichen Fähigkeiten sitzen in ihren Bänken, still und konzentriert, und bringen mit Hilfe von Buntstiften und ihrer Phantasie das zu Papier, was sie für das kommende Jahrtausend für wichtig halten. Viele zeichnen eine Weltkugel, versehen diese mit Strichen und Querlinien und schreiben so hoffnungsvolle Gedanken wie Frieden, Erhaltung der Umwelt, genügend Nahrung für alle daran.
„Sie waren völlig fasziniert“, erzählt David Hemery, ehemaliger Olympiasieger im 400-m-Hürdenlauf und Anhänger von Tony Buzan, dem Mann, der den Vormittag in der Schule damit verbracht hatte, die Technik des Mindmapping zu erklären und eine so schwierige Zuhörerschar wie eine Gruppe von Teenagern zu inspirieren. Zweck der Sache war, diesen jungen Menschen zu zeigen, wie man seine Gedanken am effektivsten weiterentwickeln und organisieren kann, um so die Kreativität und die Erinnerungsfähigkeit zu steigern.
Seit mehr als 30 Jahren macht Buzan durch Vorträge, Fernsehauftritte und Bücher all denjenigen Mut, die das Gefühl haben, ihr Potential nicht genügend auszuschöpfen. Seine Botschaft lautet: Sie können mehr erreichen, wenn Sie lernen, ihr Gehirn richtig zu nutzen. Nach Ansicht von Buzan werden 90 Prozent aller Aufzeichnungen, die in der Schule oder im Berufsleben gemacht werden, vergessen. „Es ist eine enorme Zeit– und Energieverschwendung“, meint er. Wenn wir uns an mehr erinnern könnten, was uns beigebracht wird, wären wir auf alles besser vorbereitet – Alltagsentscheidungen, Examen, Arbeit, Leben.
Der zentrale Punkt in Buzans Auffassung von Intelligenz ist, daß wir unser Potential nur dann ausschöpfen können, wenn wir lernen, unser Gehirn optimal zu nutzen. „Das Gehirn braucht Input von außen, der nach innen hin reflektiert wird“, so Buzan. Das Gehirn ist ein kompliziertes Netzwerk von Sensoren, die Informationen von allen unseren Sinnen verarbeiten. Wenn wir irgendwelche Sinne ausschließen, setzen wir zwangsläufig Grenzen für das, was wir erreichen können.
Buzans Laufbahn vom neugierigen Kind bis zum intellektuellen Guru begann im Alter von sieben Jahren in Südengland, wo er und sein jüngerer Bruder mit den Eltern lebten. Sein Vater war Ingenieur und seine Mutter zunächst Arzthelferin, später absolvierte sie dann ein Hochschulstudium. In der Schule bemerkte Buzan, daß er in einigen Fächern bessere Noten bekam als andere Schüler, von denen er dachte, sie seien klüger als er. Andererseits meinte der Lehrer, Buzans bester Freund sei dumm, obwohl seine Mitschüler ihn für ein Genie hielten.
Im Laufe der Jahre bemühte sich Buzan intensiv darum, diese offenkundigen Abweichungen zu ergründen. Als er 12 Jahre alt war, zog seine Familie in den Westen Kanadas. Nachdem er Anfang der sechziger Jahre an der Universität von British Columbia in Kanada ein Doppelexamen in Geisteswissenschaften und in Naturwissenschaften mit Auszeichnung abgelegt hatte, kam er der Antwort allmählich näher.

Buzan zog zurück nach Großbritannien und begann, Englisch, kreatives Denken und Gedächtnistraining zu unterrichten. Er half Kindern mit Problemen und Lernschwierigkeiten, indem er sie dazu brachte, beim Lernen und Verstehen alle Sinne einzusetzen. Die Ausstrahlung seiner ersten Fernsehserie mit dem Titel Use Your Head bei der BBC im Jahre 1973, und die Veröffentlichung eines Buches zu dieser Serie führten dazu, daß Buzan seinen Zuhörerkreis beträchtlich erweiterte. „Das war wirklich der Startschuß für Mindmapping“, so Buzan.
„Wenn man das Gehirn auf etwas fokussiert, dann geschieht etwas – wie beispielsweise die Landung auf dem Mond. Da kann man sich leicht vorstellen, was passiert, wenn sich das Gehirn auf sich selbst konzentriert.“ Buzan sitzt bei diesem Gespräch unter einem Portrait seines großen Vorbildes Leonardo da Vinci in seinem Büro am Ufer der Themse. Im Zimmer nebenan sind die Zeichen seiner Vielseitigkeit deutlich zu sehen: stapelweise Bücher, Aufzeichnungen von laufenden Projekten, eine Gitarre, eingerahmte Auszeichnungen, von Kindern gemalte Bilder und fertiggepackte Koffer für die zahlreichen Reisen, die Buzan unternimmt. Er befindet sich im Schnitt acht Monate pro Jahr außerhalb Englands.
Mit 56 sieht Buzan in jeder Hinsicht wie der erfolgreiche Geschäftsmann aus, der er ist. Sein geschniegeltes Äußeres – weißer Rolli, blauer Blazer mit Goldknöpfen und graue Hose mit korrekter Bügelfalte – spiegelt eine anspruchsvolle Sensibilität wider, die sicherlich auf seinen angeborenen Ordnungssinn zurückzuführen ist. Ohne ihn liefe Buzans geschäftlicher Alltag nicht so reibungslos ab. Neben seinen unzähligen Vorträgen, die er weltweit hält, befaßt sich Buzans Unternehmen mit einer enormen Palette von verschiedenen und doch miteinander in Zusammenhang stehenden Aktivitäten, die sich von der Betreuung olympischer Athleten bis zur Beratung von Regierungen erstreckt.
Dazu gehört auch das Buzan Centres, wo die Buzan-Methode an diejenigen weitergegeben wird, die ihrerseits Mindmapping-Kurse abhalten. Dann gibt es da noch die Denksportolympiade (Mind Sports Olympiad), die erstmalig im August 1997 in London stattfand und mehr als 2.000 Teilnehmer aus 58 Ländern zu verzeichnen hatte. Zu den Disziplinen zählten unter anderem Schach, Bridge und Kreuzworträtsel. Außerdem initiierte Buzan die Stiftung Brain Trust, eine Wohltätigkeitsorganisation, die gerade den Aufbau eines „Brain Dome“ beantragt hat, einer Art von intellektuellem Themenpark mit Aktivitäten, die den Besuchern die unterschiedliche Funktionsweise des Gehirns vor Augen führen.
Zu nennen wäre da auch noch die Akademie, ein innovatives Seminarprogramm für Unternehmen in Zusammenarbeit mit dem von Prinz Philipp von Liechtenstein ins Leben gerufenen Liechtenstein Global Trust sowie mit der angesehenen Wharton Business School in den USA. Erwartungsgemäß liegt dem Lehrplan der Akademie Buzans Methode der Öffnung der Sinne zugrunde. „Er basiert auf der griechischen Auffassung von Ausbildung, die auch in der italienischen Renaissance praktiziert wurde“, sagt Buzan.
Buzan betrachtet Leonardo da Vinci als das beste Beispiel für das, was die Menschheit anstreben sollte. „Es ist die ungeheure Breite seines Wissens, der ständige Wissensdurst, sein Interesse an Geistes- und Naturwissenschaften und seine hervorragenden Fähigkeiten im Bereich der Kommunikation und der Übersetzung. Er ist das Paradebeispiel eines ausgewogenen Menschen“, so Buzan.
Genau diese Art der Ausgewogenheit ist auch Buzans Ziel. Neben seinen beruflichen Verpflichtungen schreibt er jeden zweiten Tag ein Gedicht und betreibt Frühsport (vorzugsweise in Form von Rudern auf der Themse). Wie er sagt, entschied er sich mit Ende zwanzig dafür, keine Familie zu gründen, denn sein ständiges Reisen wollte er einer Familie nicht zumuten. Auch wenn er diese Entscheidung manchmal bereut, so genießt er doch die Bewunderung, die ihm eine weltweite Schar von jungen Anhängern entgegenbringt.
An einem kalten regnerischen Dienstagmorgen bereitet sich Buzan auf seine nächste Reise vor. Er wird im kommenden Monat nur einen einzigen Tag in Großbritannien sein. „Tony meint, es stecke ein kleines Genie in jedem“, erzählt sein Freund, der Goldmedaillengewinner David Hemery. „Und er ist bereit, alles in seiner Macht stehende zu tun, um den Leuten zu helfen, dieses Genie hervorzulocken.“

Deborah Wise

Wirtschaftsjournalistin in London

Fotos John Cole

 

 

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