Hubschrauber im Aufwind
Was einstmals in den Anfängen der Luftfahrt als Familienunternehmen begann, hat sich inzwischen durch Partnerschaften, Allianzen und innovative Lösungen zu einem weltweit führenden Hubschrauberhersteller entwickelt
Das Gebiet um Cascina Costa, eine italienische Kleinstadt rund 35 Kilometer nördlich von Mailand, war von jeher ein Ausgangspunkt für Militärtransporte. Die italienische Kavallerie hatte hier ihre Ställe, weil der fruchtbare Boden in diesem flachen Landstrich gute Voraussetzungen für Pferde bot. Die Topographie erwies sich auch für Flugzeuge als günstig.
Der Mann, der der Stadt ein neues Image gab, war Giovanni Agusta, Gründer des gleichnamigen Unternehmens (heute AgustaWestland). Agusta begann 1923 in Cascina Costa mit dem Lizenzbau von Flugzeugen. Zur Geschäftstätigkeit gehörte außerdem ein Wartungs- und Ersatzteilservice.
In den vierziger Jahren beschloss sein Sohn, Domenico Agusta, der inzwischen die Firma übernommen hatte, ein Unternehmen für den Bau von Motorrädern zu gründen, da dieser Sektor stark im Kommen war. Technische Fachkompetenz gab es reichlich vor Ort. Aus der Idee entstand der Hersteller Meccanica Verghera (MV Agusta), der von 1952 bis 1976 Motorräder baute und vermarktete.
Der eigentliche Durchbruch kam 1952, als Agusta einen Vertrag mit dem amerikanischen Unternehmen Bell Helicopter für den Lizenzbau von Hubschraubern abschloss. Ähnliche Abkommen wurden in den sechziger Jahren mit den amerikanischen Hubschrauberproduzenten Sikorsky, Boeing und McDonnell Douglas unterzeichnet.
Agusta begnügte sich jedoch nicht mit dem Lizenzbau, sondern entwickelte schon bald eine eigene Forschungs- und Entwicklungskapazität, die schließlich zum Bau von neun erfolgreich getesteten Prototypen führte. Eine führende Stellung im Bereich des Vertikalflugs sicherte sich Agusta 1971 mit dem ersten Flug des Hubschraubermodells A109. Zwei Jahre später unterzeichnete Agusta einen Vertrag für eine Zusammenarbeit mit der staatlichen Holdinggesellschaft EFIM (Ente Partecipazioni e Finanziamento Industria Manifatturiera), die 51 Prozent der Agusta-Aktien erwarb.
Made in Europa
Eine der ersten Initiativen Ende der siebziger Jahre war eine Partnerschaft mit Westland in Großbritannien zur Konstruktion des EH101, eines 15-Tonnen-Militärhubschraubers. Diese Partnerschaft sollte sich für beide Unternehmen als bedeutend herausstellen. Agusta lancierte 1983 den vier Tonnen schweren Mehrzweckkampfhubschrauber A129 Mangusta. Es war der erste Kampfhubschrauber, der komplett in Europa entworfen und produziert worden war.
1991 war das Unternehmen auf 10.000 Beschäftigte angewachsen und steckte tief in den roten Zahlen. Ein Jahr später leitete das inzwischen eingesetzte neue Führungsteam eine Umorganisation ein. Hubschrauber sollten das Kerngeschäft des Unternehmens werden, und alle nicht zu diesem Geschäftsbereich gehörende Vermögenswerte wurden veräußert. Moderne Managementmethoden wurden eingeführt und die Produktionsanlagen rationalisiert. Bis 1994 war die Zahl der Beschäftigten auf 5.000 geschrumpft. Nur der Bereich Forschung und Entwicklung behielt mit 1.000 Mitarbeitern seinen Personalbestand.
Durch diese Maßnahmen erhielt das Unternehmen eine neue Wettbewerbskraft und wurde von der italienischen Gesellschaft Finmeccanica übernommen. 1998 gründeten Bell Helicopter Textron und Agusta die Bell/Agusta Aerospace Company. Sechsundvierzig Jahre, nachdem Agusta die Lizenz für Bell-Technologie erhalten hatte, wurden die beiden Unternehmen nun Partner für die Entwicklung eines neuen Hubschraubermodells, Agusta AB 139. Außerdem waren sie gemeinsam in das BA609 Tiltrotor-Projekt involviert, eine Kombination aus Hubschrauber und Turboprop-Flugzeug.
Fruchtbare Allianz
Trotz der Erfolge des neuen Führungsteams und einer Auffrischung des Produktangebots erkannte Agusta, dass man allein auf dem globalen Hubschraubermarkt nicht überleben konnte. Die Entwicklungskosten waren zu hoch, und die amerikanischen und europäischen Produzenten stellten eine zu große Konkurrenz dar. Die Globalisierung des Marktes verlangte nach einer strategischen Allianz. Die Wahl fiel auf Westland und im April 1999 erzielten Finmeccanica und GKN (die Aktionäre von Agusta beziehungsweise Westland) eine Einigung. Am 1. Januar 2001 nahm das Joint Venture-Unternehmen mit einer jeweils 50-prozentigen Beteiligung beider Partner offiziell seine Tätigkeit auf. Nach nur einem Jahr rangierte der Umsatz des neuen Unternehmens bereits an erster Stelle unter den Hubschrauberherstellern der Welt.
„Die Fusion sollte unsere Präsenz auf dem Markt stärken und unsere Kosten senken. Alles passte perfekt zusammen“, urteilt der Geschäftsführende Direktor von Agusta, Giuseppe Orsi. „Unsere Produkte und die von Westland komplettierten einander ausgezeichnet. Es gab keine Produktüberlappungen. Außerdem hatten wir eine ähnliche Unternehmensgeschichte, und unsere Märkte ergänzten sich.“
AgustaWestland hat inzwischen fast 9.000 Beschäftigte und erzielte 2002 einen Umsatz in Höhe von 2,7 Milliarden Euro. Die Erträge vor Steuern (EBIT) konnten in den drei Jahren seit der Gründung des Unternehmens kontinuierlich gesteigert werden, ein Beweis dafür, dass Kostensynergien erzielt worden sind.
Neue Strategie
2002 wurden laut dem Branchenverband International Directory of the American Helicopter Society weltweit 772 Hubschrauber mit einem Produktionswert von insgesamt 5,2 Milliarden US-Dollar gebaut. Den Markt teilen sich fünf Großunternehmen: AgustaWestland und Eurocopter in Europa sowie Bell, Sikorsky und Boeing in den USA. Laut Orsi wird die Zahl der Konkurrenten vermutlich weiter sinken. Er will deshalb die Wettbewerbskraft und Innovationsfähigkeit weiter verbessern, um AgustaWestland einen Platz unter den Überlebenden zu sichern. „Agusta formulierte bereits Mitte der neunziger Jahre eine neue Strategie, die sich auf zwei Eckpfeiler stützte: Allianzen und Partnerschaften zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit und Förderung der technologischen Innovation sowie zur Schaffung eines Produktangebots, das den neuen Anforderungen gewachsen ist.“
Der kommerzielle Markt mit seinen kurzfristigeren Konjunkturtrends ist unbeständig. AgustaWestland macht heute etwa 40 Prozent seiner Umsätze auf dem Markt für kommerzielle Luftfahrt. Eines der innovativsten Produkte – zurzeit bei Agusta noch in Entwicklung – ist der BA609, das erste Tiltrotormodell der Welt mit einem Gewicht von sechs Tonnen. Der BA609 wird doppelt so schnell fliegen wie ein gewöhnlicher Hubschrauber und soll bei seiner Indienststellung 2007 die Lufttransporte für gewerbliche Zwecke, Rettungseinsätze, medizinische Aufgaben und staatliche Aufträge revolutionieren.