Leif Edvinsson

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Das Unsichtbare sichtbar machenLeif Edvinsson ist ein Wirtschaftsvisionär. Der 55 Jahre alte Schwede erfand das Konzept des intellektuellen Kapitals, womit die unsichtbaren oder immateriellen Vermögenswerte eines Unternehmens gemeint sind, und er entwickelte als erster Bewertungsinstrumente dafür. Er gilt heute als der führende Experte auf diesem Gebiet.
   Das intellektuelle Kapital eines Unternehmens, sagt Edvinsson, umfasst vieles und schließt so unterschiedliche Dinge ein wie die Kenntnisse und Fähigkeiten der Beschäftigten, die Kundenbeziehungen, das Informationsnetz und die Organisationshandbücher des Unternehmens. Einer detaillierteren Definition zufolge ist intellektuelles Kapital die Kombination von personellem und strukturellem Kapital, also den gesamten immateriellen Werten, die noch übrig sind, wenn das Personal nach Hause gegangen ist.
   Edvinsson behauptet, dass jedes Unternehmen, wenn es überleben und maximale Gewinne erwirtschaften will, eine gute Ausstattung mit intellektuellem Kapital braucht. Ohne dieses Kapital kann es nicht die für die Zukunft notwendige Forschung und Entwicklung finanzieren, keine Dividenden auszahlen und keine Steuern entrichten.
   Seit 15 Jahren steht Edvinsson an der Spitze, wenn es darum geht, in Unternehmen ein besseres Verständnis für das intellektuelle Kapital zu schaffen und ihnen beizubringen, wie man es fördert, misst und den Aktionären präsentiert. Diese Arbeit brachte ihm 1998 die von der britischen Stiftung Brain Trust vergebene Auszeichnung „Brain of the Year“ ein, die zuvor solchen Koryphäen wie dem Schachgenie Gary Kasparov und dem brillanten Physiker Stephen Hawking zu Teil wurde.
   Etwas Immaterielles zu messen, scheint per Definition nicht ganz einfach. Edvinsson hat jedoch Messinstrumente dafür entwickelt und reist nun überall herum, um den größten Unternehmen der Welt seine Botschaft zu predigen. „Das größte Problem, mit dem wir heute kämpfen, ist das Fehlen eines globalen Standards für die bilanzmäßige Erfassung von immateriellen Werten“, sagt er. „Ohne sie ist es nicht möglich, sich ein vollständiges Bild von einem großen Unternehmen zu machen.“
   Er verdeutlicht seine Aussage. Ein brillanter Vermögensverwalter bei einer internationalen Bank, der seinem Arbeitgeber durch geschickte Aktienauswahl jedes Jahr Hunderte von Millionen Dollar einbringt, ist auf dem Weg, das Unternehmen zu verlassen. Wird diese Tatsache in den Finanzberichten des Unternehmens zum Ausdruck kommen? Wahrscheinlich nicht, obwohl es schwer sein wird, einen so bedeutenden Mitarbeiter zu ersetzen, und obwohl sich der Verlust seiner Kompetenz mit größter Sicherheit negativ auf den Gewinn der Bank auswirken wird.
   Edvinsson sieht seine Mission darin, die Wirtschafts- und Finanzwelt zu einer offenen Darlegung ihres intellektuellen Kapitals zu bewegen. Eine derartige Veränderung wird zur Folge haben, dass die bisherigen Bilanzierungsgrundsätze völlig revidiert werden müssen.
   Edvinsson macht kein Geheimnis daraus, wie unzufrieden er mit der heutigen Situation ist. Er ist zum Beispiel der Ansicht, dass Finanzexperten und Börsenanalysten ihre Kriterien für die Beurteilung der zukünftigen Gewinnaussichten eines Unternehmens ändern müssen. Bisher wurde ganz einfach die Leistung der Vergangenheit in die Zukunft projiziert.
   Nach Edvinssons Ansicht haben diese Modelle den Fehler, dass sie nicht das intellektuelle Kapital berücksichtigen. „Der beste Wegweiser für das zukünftige Gewinnpotenzial ist das intellektuelle Kapital, nicht die Leistung in der Vergangenheit“, meint er.
   Ein Unternehmen, fährt Edvinsson fort, dem es nicht gelingt, sein intellektuelles Kapital zu erhalten und auszubauen, hat keine Zukunft. Die Stärke oder Schwäche des intellektuellen Kapitals entscheidet bei einem Unternehmen über Spitzenleistung oder Mittelmäßigkeit und in einigen Fällen über Erfolg oder Misserfolg.
   Wer die Bedeutung des intellektuellen Kapitals nicht begreift, macht leicht strategische Fehler. Viele Unternehmen glauben, ihre Produktivität oder ihren Gewinn durch Personalabbau steigern zu können. Edvinsson hält das für einen völlig falschen Weg. Die Entlassung von Beschäftigten bedeutet, wertvolles kollektives Wissen zu verlieren. In der Regel sind es zudem die innovativsten Angestellten in der Altersgruppe der 20-30-jährigen und der 50-60-jährigen, die als erste geopfert werden.
   Beschäftigte dieser Altersgruppen sind möglicherweise die wertvollsten in einem Unternehmen, so Edvinsson. Nicht um sonst hat er auf seine Geschäftskarte geschrieben: „Viele [Unternehmen] setzen für die Zukunft auf eine Hungerkur, statt in intellektueller Kompetenz zu schwelgen.“ Es besteht das Risiko, dass das Unternehmen in eine „Anorexie“ verfällt, fügt er hinzu.
   Er findet, es gibt oft bessere Wege, die Kosten zu senken, als Personal zu entlassen oder vorzeitig in den Ruhestand zu schicken. Outsourcing, bei dem ein Geschäftsbereich einem externen Fachunternehmen übergeben wird, ist eine „potenziell interessante“ Lösung. Eine andere besteht darin, externe Berater oder freiberuflich tätige Fachleute in Anspruch zu nehmen, statt Vollzeitkräfte einzustellen. „Das Risiko sinkt und die Effektivität steigt, wenn man ein Netzwerk von qualifizierten Teilzeitkräften zur Verfügung hat, aber viele Unternehmen haben das nicht verstanden.“

   Laut Edvinsson wurde der Begriff intellektuelles Kapital Anfang der achtziger Jahre geprägt. Damals bat man ihn, an einer vom schwedischen Kabinett zusammengestellten Arbeitsgruppe teilzunehmen, die Wege finden sollte, den Export von immateriellen Werten zu fördern. Die Regierung wunderte sich nämlich, dass sich die rasche Expansion und der Erfolg des Dienstleistungssektors in Schweden nicht in höheren Exportvolumen niederschlug. Der Export war ein Bereich, in dem die Schwerindustrie immer noch dominierte.
Edvinsson und seine Kollegen fanden eine erstaunlich einfache Antwort auf dieses Rätsel. Dienstleistungsunternehmen hatten große Probleme mit der Exportfinanzierung, weil die Banken nur traditionelle Vermögenswerte wie Immobilien oder Maschinen und Anlagen als Sicherheiten für Darlehen akzeptierten. Verglichen mit kapitalintensiven Industriezweigen wie die Stahl-, Maschinenbau- und Papierindustrie hatten Dienstleistungsunternehmen erheblich weniger Vermögenswerte dieser Art.
   „Das bedeutet, dass ein Gebäude für die Bank wertvoller war als die Menschen, die das Geld nutzbringend einsetzen würden“, stellt Edvinsson fest. „So ging es vor zehn Jahren zu, wenn Kreditanalysen vorgenommen wurden. Viele Banken machen es heute noch genauso.“
   Edvinsson hat sich intensiv darum bemüht, diese Situation in Schweden zu ändern, zunächst bei der größten schwedischen Bank SEB, dann bei der größten nordischen Versicherungsgesellschaft Skandia, bei der er bis 1999 den weltweit ersten Posten als Direktor des intellektuellen Kapitals bekleidete. In dieser Zeit gründete und leitete er auch Skandias „Future Center“ (Zukunftszentrum).
   Er sitzt heute hauptberuflich in einer Reihe von Aufsichtsräten und konzentriert sich dabei auf Fragen des intellektuellen Kapitals und Wissensmanagements. 1997 war er Mitbegründer des auf Bewertung von intellektuellem Kapital spezialisierten Unternehmens Intellectual Capital Sweden AB und im April dieses Jahres wurde er zum außerordentlichen Professor für den Fachbereich Intellektuelles Kapital an der Universität Lund (Südschweden) ernannt. Er ist damit weltweit der einzige Professor auf diesem Gebiet.
   Dank Edvinsson und einer Reihe anderer Pioniere auf diesem Gebiet jahrelangen Bemühungen werden nach nächstes Jahr internationale Bilanzierungsrichtlinien eingeführt, die von den Unternehmen verlangen werden, ihr intellektuelles Kapital darzulegen und unter gewissen Umständen auch in ihrer Bilanz auszuweisen.
   Das wird ein gewaltiger Sprung nach vorn sein, meint Edvinsson, aber es gibt noch viel zu tun.
von Greg McIvor  
Wirtschaftsjournalist in Stockholm  
Fotos Camilla Sjödin

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