Luftfahrzeug mit Zukunft

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Sie ist eine Mischung aus einem Hubschrauber und einem Flugzeug, sie startet senkrecht und fliegt dennoch im Geradeausflug mit hoher Geschwindigkeit.Ein Luftfahrzeug wie die Bell 609 hat es noch nie zuvor gegeben. Es ist ein Mittelding zwischen einem Helikopter und einem Flugzeug. Es kann in der Luft über einem bestimmten Punkt schweben, aber gleichzeitig auch lange Strecken fliegen, und zwar mit der Geschwindigkeit eines modernen Turboprop-Flugzeugs. In weniger als vier Jahren soll es den Flugverkehr in der zivilen Luftfahrt aufnehmen.
    Seit etwa 50 Jahren arbeitet Bell Helicopter Textron daran, das Konzept schwenkbare Triebwerke für die zivile Luftfahrt kommerziell nutzbar zu machen, was nun mit dem neuen Modell 609 gelungen ist. Die größere Schwester der Bell 609, das Modell Bell Boeing V-22 Osprey soll in Kürze für das amerikanische Militär serienmäßig gebaut werden.
    Beide Luftfahrzeugmodelle basieren auf einem Konzept mit der Bezeichnung „powered lift“, das sich grundlegend von dem für herkömmliche Hubschrauber geltenden Prinzip unterscheidet. Hubschrauber erhalten ihre Fähigkeit, senkrecht zu fliegen und über einem Punkt zu schweben, durch den Auftrieb, der entsteht, wenn sich der Rotor mit hoher Geschwindigkeit in der Luft dreht. Bei jeder Umdrehung ändert der Rotor kontinuierlich den Winkel, in dem die Luft auf den Rotor auftrifft.
    Bei dem Konzept der schwenkbaren Triebwerke sind die beiden Rotoren in sogenannten „Gondeln“ an den Spitzen der Tragflächen montiert. Wenn der „Flugschrauber“ abhebt, fungieren sie wie gewöhnliche Hubschrauberrotoren und ändern den Steigungswinkel kontinuierlich bei jeder Umdrehung.
    Einmal in der Luft, kippen die beiden Gondeln, die jeweils mit einem Triebwerk ausgestattet sind, um 90° nach vorn ab, und die Rotoren verlangsamen ihre Umdrehungsgeschwindigkeit; sie fungieren nun als Flugzeugpropeller, die nicht ihren Steigungswinkel bei jeder Umdrehung ändern. Beim Modell 609 übernimmt ein Rechnersystem die zyklische Steuerung der Rotoren. Der Rechner kann bei Bedarf den Steigungswinkel der Rotoren auch ändern, wenn sich diese im Propellerbetrieb befinden.
    Die neue Konstruktion der Bell 609 erlaubt wesentlich höhere Fluggeschwindigkeiten als bei konventionellen Hubschraubern, während gleichzeitig alle Eigenschaften wie Senkrechtstart und-landung sowie Schweben beibehalten werden.
50 Jahre Entwicklung
Diesen Traum, die Geschwindigkeit eines Flugzeugs mit den besonderen Flugfähigkeiten eines Hubschraubers zu kombinieren, äußerte bereits Mitte der vierziger Jahre Larry Bell, der Gründer der ursprünglichen Bell Aircraft Co. Er sagte voraus, daß das Verwandlungsflugzeug“, wie er es nannte, die Einsatzmöglichkeiten von Luftfahrzeugen revolutionieren werde.
    Heute ist Bell ein Unternehmen innerhalb der amerikanischen Holdinggesellschaft Textron und baut eine breite Palette von Hubschraubermodellen in den beiden Werken in Fort Worth (Texas), wo sich auch die Hauptverwaltung befindet, und in Mirabel, Quebec (Kanada). Die Modelle 609 und V-22 Osprey, ein militärischer Transporter, sollen in einer neuen Fabrik in Amarillo (Texas) gefertigt werden. Wie Bell vor kurzem bekanntgab, soll das Modell 609 auch in Italien, und zwar durch Agusta S.p.A., gebaut und vermarktet werden.
Bedürfnisse des Marktes
„Wir analysierten die potentiellen Märkte und stellten fest, daß die Betreiber mittelgroßer Hubschrauber ein Luftfahrzeug brauchten, das schneller und weiter fliegen konnte als derzeit irgendeines der verfügbaren Modelle“, sagt R.R. (Ron) Reber, Leiter des Entwicklungsressorts für das zivile Kipprotor-Geschäft bei Bell Helicopter Textron.
    „Deshalb konstruierten wir das Modell 609 mit neun Sitzplätzen und kamen damit jenem Markt entgegen, der die höchsten Ansprüche stellte“, erklärt Reber. „Wir kennen diesen Markt gut und haben dorthin viele Hubschrauber dieser Größenordnung geliefert. Wir brauchten uns also keine Kenntnisse darüber zu verschaffen, wie man um Luftfahrzeuge dieser Größe konkurriert.“
    „Ein mittelgroßer „Flugschrauber“ für neun Passagiere kann überdies alle vorhandenen Hubschrauberflugplätze der Welt benutzen. Es werden also nicht direkt größere Hubschrauberflugplätze benötigt, sondern das gesamte System kann sich schrittweise mit dem Luftfahrzeug entwickeln.“
    In erster Linie als Transportmittel für hochgestellte Führungskräfte konzipiert, ist das 609er Modell in der Lage, nahezu jedes Turboprop-Flugzeug innerhalb eines Radius von 800 Kilometern zeitlich zu schlagen. „Es ist ebenso effektiv wie ein Hubschrauber für 18 Passagiere, weil es mindestens doppelt so schnell fliegt“, so Reber.
    Als Antrieb dienen für das 609er Modell die in Kanada gebauten PT6C-67A Gasturbinentriebwerke von Pratt&Whitney. „Unsere Kunden sagten, sie wollten lieber das bewährte Triebwerk haben, das weltweit in gut 40.000 Luftfahrzeugen eingesetzt ist“, meint Reber. Die PT6-Triebwerke der 609er Flugschrauber sind allerdings trotz der alten Konstruktion mit digitaler Triebwerkregelung ausgestattet, dem neuesten auf dem Gebiet der Kraftsteuerungstechnik.
    In anderen Bereichen hat Bell die neueste Technologie in die 609er Modelle eingebaut. Die elektrisch signalisierte „Fly-by-wire“– Flugsteuerung des „Flugschraubers“ basiert auf demselben elektronischen Steuerungssystem, das in den neuesten Boeing 777 Linienflugzeugen verwendet wird.
Zulassung erwartet
Der erste „Flugschrauber“ vom Typ Bell 609 soll im Sommer des Jahres 2000 einsatzbereit sein. Man rechnet damit, daß das Modell im Jahre 2002 von der amerikanischen Luftfahrtsbehörde und den vergleichbaren europäischen Institutionen zugelassen wird, womit dem Verkauf und der kommerziellen Nutzung nichts mehr im Wege stünde. Nach den Plänen von Bell soll die Zulassung für das 609er Model zunächst für einen Betrieb mit zwei Piloten bei Schlechtwetter- und Vereisungsverhältnissen beantragt werden, später dann für einen Betrieb mit einem Piloten unter den gleichen Bedingungen.
    Es haben bereits über 70 Kunden eine Anzahlung für ein Luftfahrzeug mit schwenkbaren Triebwerken des Typs 609 geleistet, wobei mehr als die Hälfte der Abnehmer außerhalb der USA angesiedelt ist. Der größte Teil dieser internationalen Kunden kommt aus Europa, dem Nahen Osten und Asien.
    Die amerikanische Küstenwache, die auch Rettungseinsätze an den Küsten durchführt, sieht Bell 609 als denkbaren Ersatz für verschiedene Hubschraubertypen und kleine Strahlflugzeuge, die derzeit im Einsatz sind. Der „Flugschrauber“ hat einen großen Aktionsradius und wird in Seenot geratene Schiffe und Boote ebenso schnell erreichen wie die heutigen Jets. Der Vorteil ist allerdings, daß er auch landen und die Opfer retten kann. Die derzeitigen Strahlflugzeuge können nur Rettungsleinen herablassen und die Stelle für entsprechende Rettungsboote markieren.
    Der amerikanische Grenzschutz hält dieses Modell für ein ideales Luftfahrzeug bei der Bekämpfung des Drogenschmuggels, das in der Lage ist, die Flugzeuge der Schmuggler bis zu ihren Landeplätzen zu verfolgen und dort auch selbst zu landen, bevor die Schmuggler von den oft engen abgelegenen Plätzen, die für derartige illegale Aktivitäten bevorzugt werden, entkommen können.
    Bell plant für die ersten Jahre ein Produktionsvolumen von 60 „Flugschraubern“ pro Jahr. Bis zum Produktionsbeginn und zur Auslieferung der ersten Modelle hofft Bell auf ein Auftragspolster für etwa drei Jahre im voraus.
David A. Brown  
Fachjournalist für Luftfahrttechnik  
Fotos Bell Helicopter Textron

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