Motor für Brasiliens Wirtschaft

Mit der Wahl von Brasilien entschied sich Volkswagen 1953 für eines der bedeutendstenLänder Lateinamerikas – ein Schritt nicht ohne RisikoAls Volkswagen 1953 in einem Außenbezirk von São Paulo eine Fabrik für die Montage von CKD-Sätzen (CKD = completely knocked down) in einem kleinen Lagerhaus eröffnete, war die Sängerin Carmen Miranda mit ihrem Tutti-Frutti-Hut und ihrem Kopfschmuck die unbestrittene Königin Brasiliens. Als sie zwei Jahre später starb, folgten ihrem Sarg eine Million trauernde Menschen durch die Straßen von Rio de Janeiro. Es war das größte Begräbnis in der Geschichte dieses Landes. Die Männer trugen damals Panamahüte, weiße Leinenanzüge und nadelspitze braun-weiße Schuhe. Sie suchten Kühlung in den Bars mit Sägemehl auf dem Fußboden und laut summenden Ventilatoren an der Decke. Das waren noch Zeiten, als der Kaffee das Land regierte und die Londoner Kaffeepreise die Wirtschaft bestimmten.

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Mit der Wahl von Brasilien entschied sich Volkswagen 1953 für eines der bedeutendstenLänder Lateinamerikas – ein Schritt nicht ohne RisikoAls Volkswagen 1953 in einem Außenbezirk von São Paulo eine Fabrik für die Montage von CKD-Sätzen (CKD = completely knocked down) in einem kleinen Lagerhaus eröffnete, war die Sängerin Carmen Miranda mit ihrem Tutti-Frutti-Hut und ihrem Kopfschmuck die unbestrittene Königin Brasiliens. Als sie zwei Jahre später starb, folgten ihrem Sarg eine Million trauernde Menschen durch die Straßen von Rio de Janeiro. Es war das größte Begräbnis in der Geschichte dieses Landes. Die Männer trugen damals Panamahüte, weiße Leinenanzüge und nadelspitze braun-weiße Schuhe. Sie suchten Kühlung in den Bars mit Sägemehl auf dem Fußboden und laut summenden Ventilatoren an der Decke. Das waren noch Zeiten, als der Kaffee das Land regierte und die Londoner Kaffeepreise die Wirtschaft bestimmten.

1953 war Getulio Vargas Staatschef, und das bereits seit 23 Jahren. Vargas hatte die Kaffeebranche „gerettet“, als der Markt in den dreißiger Jahren zusammenbrach. Damals ordnete er an, den Kaffee zu ernten, zu trocknen, in 60-Kilo-Säcke zu verpacken, nach Santos zu transportieren, ihn dort klassifizieren und auf Frachter laden zu lassen, um ihn schließlich ins Meer zu werfen. Auf diese Weise schaffte er es, dass die Arbeiter innerhalb der gesamten Produktionskette ihre Arbeitsplätze behalten konnten.

Ein Jahr nach der Eröffnung der Volkswagen-Fabrik beging Vargas Selbstmord und im Jahr darauf wurde Juscelino Kubitschek zum Präsident gewählt. Der für sein tänzerisches Talent gerühmte und für sein Motto „Fünfzig Jahre in fünf“ bekannte Kubitschek baut die neue Hauptstadt Brasilia, öffnete das Landesinnere und legte den Grundstein für die Automobilindustrie, indem er Volkswagen ermunterte, den Käfer dort bauen zu lassen. Seitdem hat sich Brasilien von einem Agrarstaat, in dem nahezu 70 Prozent der Einwohner in ländlichen Gebieten wohnten, zur heutigen Industrienation gewandelt. Inzwischen leben 70 Prozent der Brasilianer in Städten und die Bevölkerung hat sich verdreifacht, von 55 Millionen auf 165 Millionen.

Als sich Volkswagen für das Industriegebiet São Bernardo do Campo am Rande von São Paulo als Standort für seine erste Fabrik entschied, war der Ansturm enorm. Tausende kamen aus dem Landesinneren in der Hoffnung, hier eine Arbeit zu finden. „Ich fuhr nach São Bernardo, weil ich die Scheinwerfer für den Käfer bauen wollte“ erzählte ein Farmarbeiter einem Journalisten von Brasiliens Editora Abril. Er bekam den Job allerdings nicht, weil er eher dafür geeignet war, Jungstiere mit Brandzeichen zu versehen.

Volkswagen fing von Null an und brachte den Arbeitern erst einmal grundlegende Kenntnisse zur Bedienung von Industriemaschinen bei. „Ein großes Unternehmen, das sich in einem Entwicklungsland niederlässt, wird mit zahlreichen Problemen konfrontiert, und Volkswagen musste sich mit allen auseinander setzen. So fehlte es unter anderem an Arbeitskräften und an der nötigen Infrastruktur für die Errichtung einer Fabrik nahe São Paulo“, sagt Miguel Jorge, stellvertretender Leiter Corporate Affairs bei Volkswagen do Brasil.

Sozialleistungen

Volkswagen war auch maßgeblich an der Einrichtung von Sozialleistungen für Arbeiter beteiligt. „Das Unternehmen bot seinen Arbeitern Sozialleistungen, die bis dahin völlig unbekannt waren. Dazu gehörten Schulungen, Busse für den Weg zur Arbeit und nach Hause, Krankenversorgung und eine Cafeteria“, berichtet Jorge. Im Laufe der Jahre wuchs der Personalbestand auf die Höchstzahl von 40.000 Beschäftigten an. Das Werksgelände mit seinen Verkehrsampeln, einem Postamt, verschiedenen Bankfilialen, der größten Bäckerei Brasiliens, die täglich 100.000 Brötchen backt, und einer gigantischen Kantine für die Arbeiter wird auch „Volkswagen City“ genannt.

„Volkswagen änderte das Leben in São Bernado do Campo von Grund auf und ebnete den Weg für andere Fertigungsunternehmen und Hersteller von Kfz-Teilen“ so Jorge. „Der Ort wuchs von 30.000 Einwohnern in den fünfziger Jahren auf 750.000 in diesem Jahr. Die Stadtverwaltung baute das Straßen- und Autobahnnetz aus, um den Industrialisierungsprozess zu unterstützen, was zu einem enormen wirtschaftlichen Boom führte.“ Heute befinden sich in São Bernado do Campo etwa 2.000 Industrieunternehmen, 13.500 Gewerbebetriebe sowie acht Hochschulen und Universitäten.

Die Industrie, die einmal die Basis des wirtschaftlichen Wachstums in dieser Region war, ist jedoch inzwischen vom Dienstleistungssektor auf den zweiten Platz verwiesen worden. Volkswagen hatte jedoch einen nicht unwesentlichen Einfluss auf die Situation in São Paulo insgesamt. „Ein Unternehmen wie Volkswagen, das Tausende von direkten und Zehntausende von indirekten Arbeitsplätzen schafft, verändert sicherlich die Wirtschaft in dem Land oder in der Region seiner Standortwahl. Die Auswirkungen sind zwar nicht quantifizierbar, aber eines steht fest: Volkswagen gab der Industrialisierung Brasiliens einen enormen Impuls, als die brasilianische Regierung beschloss, dass man eine Automobilindustrie im Land haben wollte. Derzeit steht der Automobilsektor für 10,7 Prozent des Bruttoinlandsproduktes und beschäftigt 100.000 Leute“, sagt Jorge.

Marktführung behauptet

Trotz aller Höhen und Tiefen in der äußerst bewegten Wirtschaft führt Volkswagen seit Jahrzehnten die Absatzstatistik an. Sein 50-prozentiger Marktanteil von Anfang der siebziger Jahre, als Ford und General Motors die einzigen Konkurrenten waren, ist angesichts der 16 weiteren Automobilhersteller, die ein Stück vom Kuchen abhaben wollen, auf 27 Prozent geschrumpft. Statt sich für Brasilien oder Argentinien zu entscheiden, baut Volkswagen nun Kraftfahrzeuge in beiden Ländern und vertraut darauf, dass der Mercosur (Mercado Común del Sur) weltweit der Markt mit dem höchsten Wachstumspotenzial ist. Brasiliens 165 Millionen Einwohner fahren 21 Millionen Autos, während in vielen Industrienationen mindestens ein Auto pro Kopf zur Verfügung steht.

Wichtig ist für Volkswagen, sich den raschen wirtschaftlichen Schwankungen jederzeit anpassen zu können. Die Zielsetzung, in diesem Jahr in Brasilien zwei Millionen Autos zu produzieren, wurde auf 1,5 Millionen heruntergeschrieben, liegt aber damit immer noch über den 1,3 Millionen Fahrzeugen, die im letzten Jahr vom Band liefen. „Die große Herausforderung besteht jedoch heute für jedes Unternehmen darin, ein Produkt anzubieten, das den Kunden zufrieden stellt, und Dienstleistungen bereitzustellen, die die Kundentreue fördern“, meint Jorge. „Im Zuge der Globalisierung der Wirtschaft werden die Unternehmen ausschließlich hochwertige Produkte mit modernster Technik und optimalem Komfort auf den Markt bringen. Der einzige Unterschied wird nur der Service gegenüber dem Kunden sein, und das ist die große Aufgabe, vor der Volkswagen steht.“

Sol Biderman

Wirtschaftsjournalist in São Paulo

Fotos VW

 

 

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