Nation der Eisenbahner
Es bedurfte mehr als 100 Jahre und 16.000 Kilometer Gleise, bis die Ferrovie della Stato SpA (FS), die italienische Staatsbahn also, die beiden äußersten Zipfel von Europas längster Halbinsel miteinander verbunden hatte. “Die Eisenbahn ist in Italien von jeher mehr als nur ein Verkehrsmittel gewesen. Sie ist ein Symbol für die nationale Einheit”, sagt Enrico Passalacqua, Mitarbeiter der technischen Verwaltung der italienischen Staatsbahn in Florenz. Die Strecken Florenz-Pisa, Turin-Genua, Turin-Moncalieri und Mailand-Venedig wurden alle um 1840 fertig gestellt.
Dass die nationale Einheit Italiens etwa zum selben Zeitpunkt zustande kam wie die Vollendung des Eisenbahnnetzes, ist kein Zufall. Die Eisenbahn hat Italien geholfen, sich als eine Nation zu fühlenWenn der Expresszug von Rom nach Palermo die Straße von Messina erreicht, die das italienische Festland von Sizilien trennt, herrscht unter Reisenden, die noch nicht dort gewesen sind, Erstaunen.
Es gibt keine Brücke. Einzeln werden die Waggons auf die Fähre gerollt, die die sagenumwobene Enge zwischen Skylla und Charybdis passiert. Zwanzig Minuten später rauscht der Express weiter in Richtung Palermo. Dies ist nur ein Beispiel für den technischen Einfallsreichtum, der erforderlich war, um die Eisenbahnverbindungen in Italien zu einem Netz zu verknüpfen.
Es bedurfte mehr als 100 Jahre und 16.000 Kilometer Gleise, bis die Ferrovie della Stato SpA (FS), die italienische Staatsbahn also, die beiden äußersten Zipfel von Europas längster Halbinsel miteinander verbunden hatte. “Die Eisenbahn ist in Italien von jeher mehr als nur ein Verkehrsmittel gewesen. Sie ist ein Symbol für die nationale Einheit”, sagt Enrico Passalacqua, Mitarbeiter der technischen Verwaltung der italienischen Staatsbahn in Florenz. Die Strecken Florenz-Pisa, Turin-Genua, Turin-Moncalieri und Mailand-Venedig wurden alle um 1840 fertig gestellt.
Anders als viele nordeuropäische Länder, in denen die Schienentrasse zwischen zwei Bahnhöfen den kürzesten Weg nehmen kann, ist Italien durch Berge in zwei Hälften geteilt. Die Gleise verlaufen im Zickzack durch die Apenninen, durchschneiden Schluchten, verschwinden in Tunneln und überqueren Viadukte. Dennoch erreichen heute die Pendolino-Hochgeschwindigkeitszüge von Fiat Ferroviaria der Reihe ETR 450/460/480/470 und HST-ETR500 Geschwindigkeiten von über 250 Kilometern pro Stunde, und das auf Strecken, die ursprünglich für 125 Kilometer pro Stunde ausgelegt waren. Der Trick ist die leichte Pendelbewegung. “In Kurven neigt sich der Zug um acht Grad zur Mitte der Schienentrasse hin und kompensiert so die Zentrifugalbeschleunigung”, erklärt der technische Direktor von FS, Domenico Maresca. Auf diese Weise kann der Zug auf Italiens kurvigen Gleisen mit 35 Prozent höherer Geschwindigkeit als gewöhnliche Intercity-Züge fahren, ohne den Reisekomfort zu beeinträchtigen. Ein Steuerungssystem mit Mikroprozessor, der Informationen an die hydraulischen Stellglieder schickt, regelt die Neigung der Wagen.
“Wir wollten die Fahrtzeiten zwischen den einzelnen Bahnhöfen verkürzen, ohne die Infrastruktur zu verändern”, sagt Maresca. “Der Pendolino war die Lösung.”
Dort, wo auf der Strecke zwischen Florenz und Rom die alten Gleise gegen spezielle Hochgeschwindigkeitsgleise ausgetauscht wurden, erreicht der ETR 500 ein Tempo von über 300 Kilometern pro Stunde.
Die FS verfügt derzeit über 60 Pendolino-Züge, die auch außerhalb der Grenzen Italiens verkehren. Zweimal täglich fährt ein Pendolino zwischen Italien und Frankreich. Außerdem verkehrt er zwischen Florenz und Zürich, Mailand und Genf sowie München und Stuttgart. Auch in Großbritannien setzt die britische Eisenbahngesellschaft Virgin auf die Neigetechnik, wenn es um kurvige Hochgeschwindigkeitsstrecken geht.
“Der Gedanke ist, dass Italiens Pendolino in Zukunft möglichst viele Passagiere zu möglichst vielen ausländischen Orten bringen soll”, so Maresca.
Wenn bei der italienischen Staatsbahn die neunziger Jahre im Zeichen der Entwicklung eines Hochgeschwindigkeitszuges für den Intercity- und Auslandsverkehr standen, stellt das neue Jahrtausend erneut die Erfindungsgabe ihrer Techniker auf die Probe. Im Zuge der langfristig angelegten Rationalisierung der italienischen Staatsbahn wurde mit Wirkung vom 1. Januar 2000 die finanzielle Verantwortung für
Italiens Regionalverkehr auf die 49 regionalen Regierungen übertragen, eine Entscheidung, die an die frühen Zeiten des Eisenbahnsystems anknüpft.
Italiens erste Eisenbahngesellschaften standen unter der Verwaltung der Stadtstaaten, die die Halbinsel in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts beherrschten. Das Königreich beider Sizilien ließ am 3. Oktober 1839 die erste Eisenbahnstrecke des Landes bauen, um die königlichen Residenzen Neapel und Portici miteinander zu verbinden. Die Herrscher der anderen Freistaaten wollten nicht schlechter dastehen und folgten rasch dem Beispiel. So entstanden separate Eisenbahnverbindungen im Freistaat Lombardei-Venetien, im Großherzogtum Toskana, in Piemont und im Kirchenstaat.
Während die ersten Züge für gekrönte Häupter reserviert waren, wählen Italiens Pendler heute die Eisenbahn aus Kostengründen. Zugfahren ist in Italien günstig.
“Jedes Mal, wenn die Erbauer der italienischen Eisenbahn auf einen Berg stießen, stellte sich die Frage: Nach rechts oder nach links ausweichen?” erzählt Marco Esposito, Korrespondent der römischen Tageszeitung La Repubblica. “Damit alle zufrieden waren, verlegten sie die Gleise in beide Richtungen. Infolgedessen ist heute selbst das kleinste Dorf an das Eisenbahnnetz angeschlossen.”
Dennoch kämpft FS einen harten Kampf, um die enge Beziehung des Durchschnittsitalieners zu seinem geliebten Auto zu
brechen. In den neunziger Jahren waren Luxus und Bequemlichkeit auf Zugfahrten hauptsächlich den Intercity-Reisenden vorbehalten, während sich der Regionalverkehr mit den alten Wagons begnügen musste.
Das soll nun anders werden. Die FS-Ingenieure in Florenz haben einen Zug entwickelt, der es mit dem Pendolino in puncto Komfort aufnehmen kann: der Nahverkehrszug TAF. Der mit Plüschsitzen und Klimaanlage ausgestattete Zug sieht aus wie ein Doppeldeckerbus und soll in den einzelnen Regionen vor allem im Hinterland der Hauptstädte verkehren.
Die ersten 24 TAF sind schon ausgeliefert und weitere 250 bestellt. “Die Regionen werden in den kommenden fünf Jahren zu den wichtigsten Kunden gehören”, sagt Maresca. “Sie haben oft viel Geld und wollen es ausgeben.”
Chris Endean
Rom-Korrespondent des Sunday Telegraph
Fotos Antonello Nusca