Ross Brawn, Meisterstratege

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Zweifellos sind die Leute hier mit Leib und Seele dabei. Die italienische Kultur ist von Gefühl und Leidenschaft geprägt, und das ist Ferraris große Stärke… Ich hoffe nur, dass auch ein bisschen angelsächsischer Pragmatismus mitspielt.An einem heißen Sommertag in der norditalienischen Stadt Maranello, dem
Hauptsitz des Formel-1-Teams Scuderia Ferrari, planen Ross Brawn und seine
Strategen einen weiteren Galaauftritt der Fahrer Michael Schumacher und Rubens
Barrichello beim bevorstehenden Grand Prix in Großbritannien.
    Der technische Direktor weiß es zu dem Zeitpunkt noch nicht,
aber das Ferrari-Team wird beim Silverstone-Rennen den ersten und zweiten Platz
belegen. Für Schumacher bedeutet das den 60. Grand Prix-Sieg. Angesichts der
schwierigen Bedingungen wird Schumacher, einer der erfolgreichsten
Formel-1-Fahrer der Rennsportgeschichte, wieder einmal die taktischen
Entscheidungen von Brawn loben.
Kritiker und Teammitglieder sind sich darüber einig, dass ein Großteil des
neuerlichen Riesenerfolgs von Ferrari auf das Konto des stillen Engländers Brawn
geht. Er ist ein angesehener Stratege, der die letzten Anweisungen zur
Renntaktik von der Box aus gibt, und gilt mit seiner angelsächsischen Vernunft
als ruhender Pol in diesem früher so chaotischen Team.
    Ist es wirklich seine ruhige Ausstrahlung, die das
Ferrari-Team vorangebracht hat?
    „Ich hoffe doch sehr, dass ich einen gewissen Einfluss gehabt
habe. Das ist meine Art zu arbeiten. Man muss mit den Leuten ruhig und präzise
reden. Ich sehe das so: Wenn wir da oben den Kopf verlieren, wie können wir dann
erwarten, dass die Jungs die Lage unter Kontrolle haben? Aber ich muss sagen,
als ich hier anfing, fand ich all das Gerede über Chaos und politische
Machenschaften ungerechtfertigt.“
Kritische Beobachter sind jedoch weniger vorsichtig mit ihren Äußerungen. Der
für Grand Prix-Rennen zuständige Redakteur des einflussreichen Rennsportmagazins
Autosport, Jonathan Noble, hält Brawn für die treibende Kraft hinter Ferraris
Erfolgen und beschreibt den Zustand bei Ferrari vor Brawns Anstellung mit
deutlichen Worten.
    „Ferrari war Anfang der neunziger Jahre eine unstrukturierte
und politisch beeinflusste Organisation. Brawn hat entscheidend dazu
beigetragen, dass daraus ein professionelles, durchorganisiertes Unternehmen
geworden ist“, sagt Noble. „Brawn ist eine Schlüsselfigur in dem heutigen
System, das überall hohes Ansehen genießt. Er ist ein besonnener, politisch
scharfsinniger Mensch und weiß, wie man Dinge organisiert, damit alles
reibungslos funktioniert.“
    Natürlich stimmte irgendetwas nicht, als Brawn Ende 1996
zusammen mit Chefkonstrukteur Rory Byrne von Benetton zu Ferrari überwechselte.
Schumacher war damals gerade eine Saison bei Ferrari, nachdem er zuvor ebenfalls
für Benetton gefahren war. Die so leidenschaftlichen und rücksichtslos
fordernden Ferrari-Fans, die Tifosi, hatten seit 1979, also 17 Jahre lang,
keinen WM-Titel mehr gefeiert, und sollten auch die nächsten vier Jahre keine
Gelegenheit dazu erhalten.
    Heute, sechs Jahre später, kann Ferrari nach einigen
herausragenden Leistungen drei Fahrer- und vier Konstrukteurstitel verbuchen,
und die rot-gelben Banner der Tifosi sind jetzt wieder überall auf den Straßen
zu sehen.
    Auf die Frage, wie die Stimmung heute bei Ferrari sei und ob
hinter dem Erfolg eine spezielle Philosophie stehe, antwortet Brawn zunächst,
dass man nichts Schriftliches dazu verfasst habe. Dann aber spricht er von
Erfolg durch Stabilität. „Das ist wichtig. Wir bemühen uns intensiv darum,
unsere Leute zu halten. Stabilität ist die absolute Grundlage für Erfolg.“
    Stabilität, harte Arbeit, gute Vorbereitung – das sind
Schlüsselbegriffe, die Brawn immer gerne wiederholt. („Wir glauben nicht an
Glück. Glück ist Vorbereitung auf eine Gelegenheit.“) Aber das alleine reicht
nicht, um solche Ergebnisse vorzulegen, wie sie Ferrari erzielt hat.
Schumacher holte für Ferrari 2000, 2001 und 2002 den Fahrertitel. 2002 gelang
ihm dieser Erfolg mit der geringsten Anzahl von Rennen. Seit 1999 hat das Team
in jedem Jahr den Konstrukteurstitel für das beste Auto gewonnen. Abgesehen von
Stabilität dürfte der entscheidende Faktor, der bei Ferrari Erfolg in
Überlegenheit verwandelt hat, die von Brawn entwickelten Rennstrategien sein.
    Der führende Formel-1-Kommentator, Mark Hughes, meint dazu:
„Er ist phantastisch, ohne Zweifel der beste Mann in der Box. Dank seiner
Anweisungen gewinnt Ferrari Rennen, die man sonst nicht gewonnen hätte. Er
wechselt mitten in einem Rennen die Strategie auf so intelligente Weise, dass
die Konkurrenz nur staunt. Schumachers Geschwindigkeit und Anpassungsfähigkeit
tragen natürlich auch wesentlich dazu bei, aber Brawn ist wirklich clever.“
In seinem Streben, das ultimative Formel-1-Team zu werden, scheint Brawn fest
entschlossen, jede Mutter an jedem Rad nachzuziehen und nichts dem Zufall zu
überlassen. Er würde sich jedoch niemals selbst die außerordentlichen Erfolge
der letzten Zeit zuschreiben.
    „Als ich zu Ferrari kam, war das meiner Ansicht nach der
Beginn einer neuen Ära. Unsere Erfolge haben wir unseren Leuten zu verdanken. Es
begann mit [Luca Cordero di]Montezemolo, unserem Präsidenten. Er holte Jean Todt
[Teamchef], der den weltbesten Fahrer für Ferrari gewinnen konnte, und als das
noch nicht ausreichte, baute er das beste Team um diesen Fahrer herum auf“, sagt
Brawn.
    Brawn verfügt über die denkbar besten Qualifikationen für
seinen Job. Von 1978 bis 1984 war er beim Williams-Team in der Forschung und
Entwicklung tätig. Sowohl 1985 als auch 1986 war er beim Force Grand Prix
leitender Aerodynamiker. 1987 übernahm er zum ersten Mal den Posten eines
technischen Direktors, und zwar bei Arrows. Als er dann 1990 zu TWR-Jaguar
überwechselte, begann seine eigentliche Erfolgsstory.
    Das Team gewann 1991 die Sportwagenweltmeisterschaft. Während
seiner Jahre bei Benetton von 1992 bis 1996 holte das Team 1994 und 1995 den
Formel-1-Fahrertitel sowie 1995 auch den Konstrukteurstitel mit Schumacher am
Steuer. Und schließlich dann der Wechsel zu Ferrari, einem bis dahin erfolglosen
Team, das sich danach sehnte, die verzweifelten Tifosi endlich zufrieden zu
stellen.
    „Was mich wirklich erstaunte, als ich zu Ferrari kam, und was
dieses Team von anderen so sehr unterschied, waren die Tifosi. Es gibt Millionen
davon in allen Teilen der Welt. Das macht ungeheuer viel Spaß. Sie können zwar
gnadenlos sein, aber wenn man gewinnt, sind sie so dankbar, wie man es von
keinem anderen Team her kennt. Sie verkörpern die Leidenschaft von Italien und
Ferrari.“
    Aber kein Hoch ohne Tief. Brawn erlebte seine schwärzeste
Stunde an jenem unglückseligen Wochenende im Mai 1994, als die Formel-1-Legende,
Ayrton Senna, beim Grand Prix im italienischen Imola ums Leben kam. Nur einen
Tag zuvor war der Österreicher Roland Ratzenberger auf derselben Rennstrecke bei
einem tragischen Unfall gestorben.
    „Für mich war es ein schreckliches Wochenende. Am selben Tag,
an dem Senna, ein Mann, den ich sehr geschätzt hatte, ums Leben kam, starb auch
mein Schwiegervater, von dem ich immer viel Unterstützung bekommen hatte. Meine
Frau wusste, dass ich mich in einer schwierigen Situation befand und
verheimlichte mir die schlechte Nachricht. Es war grauenvoll.“
    Die Intensität der Formel 1 lässt niemals nach: Mensch und
Maschine arbeiten an der Grenze ihrer Belastbarkeit. „Das Leben geht weiter,
aber der Druck ist immer da.“
    Dieser Druck ist natürlich nie größer als während eines
Rennens, wenn manchmal Entscheidungen ganz spontan getroffen werden müssen.
Solche wohl durchdachten Anweisungen können über Erfolg oder Misserfolg einer
Saison, über Ruhm oder Verachtung von Seiten der Medien und Fans entscheiden,
manchmal sogar den Job kosten – und immer ist es Brawn, der die Verantwortung
für diese Anweisungen trägt.
    „Ich glaube fest daran, dass es jemanden geben muss, der die
letztendlichen Entscheidungen trifft“, betont Brawn. „Kollektive Entscheidungen
sind die Grundlage für Katastrophen. Sicher, ich habe oft Fehler gemacht, aber
einen gewissen Prozentsatz Fehlentscheidungen darf man treffen, ohne seinen Job
zu verlieren. Ich denke, in mindestens 80 bis 90 Prozent der Fälle muss man
richtig liegen, sonst sollte man einen anderen heranlassen.“
    Angesichts von Ferraris derzeitiger Erfolgsserie scheint es
völlig undenkbar, dass Ross Brawn, technischer Direktor und ruhender Pol mit
angelsächsischer Vernunft, der große Philosoph der Formel1, in nächster Zeit
gebeten werden könnte, von seinem Posten zurückzutreten.
David Passey  
Journalist bei Appelberg und Redakteur von Evolution  
Fotos Antonia Nusca und Ferrari

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