Sue Lyons
Mit dem Blick fürs GanzeFür die Rolls-Royce-Direktorin Sue Lyons war der Weg zur Führungsspitze in der Welt der Technik geprägt von Entschlossenheit sowie einem besonderen Verständnis für und einer leidenschaftlichen Liebe zu Fabriksmilieus.
Mit dem Blick fürs GanzeFür die Rolls-Royce-Direktorin Sue Lyons war der Weg zur Führungsspitze in der Welt der Technik geprägt von Entschlossenheit sowie einem besonderen Verständnis für und einer leidenschaftlichen Liebe zu Fabriksmilieus.
„Es war ein Angriff auf alle Sinne. Faszinierend, laut, ein Geruch von Öl und Baumwolle. Ich war begeistert.“ So beschreibt Sue Lyons ihr Gefühl, als sie vor vielen Jahren ihr Herz an die Fertigungsindustrie verlor. Sie war gerade vier Jahre alt, als ihr Vater sie eines Samstags mit in die Baumwollspinnerei nahm, wo er als Vorarbeiter tätig war. „Mein Wunsch war, immer in einer Fabrik zu arbeiten“, sagt Sue Lyons.
Heute, 40 Jahre später, hat Frau Lyons kaum noch Zeit, dem geschäftigen Produktionsbereich, der nur einige hundert Meter von ihrem Büro in Bristol (England) entfernt liegt, einen Besuch abzustatten. „Ich tue es, so oft ich kann“, meint sie, aber als stellvertretende Geschäftsführerin und Leiterin der Abteilung Kundenbetreuung für Rolls Royce Flugzeugmotoren (Military Aero Engines – MAEL) ist ihre Zeit mit Verkaufsbesprechungen, Auslandsreisen und Führungsaufgaben ausgefüllt. Zu ihrem Verantwortungsbereich gehören 2.500 Beschäftigte, ein Umsatz von 700 Millionen Pfund (rund 2,2 Milliarden Mark). Rolls-Royce Jahresumsatz beläuft sich auf vier Milliarden Pfund (rund 12 Milliarden Mark).
Sue Lyons Erfolge zeugen von ihrer Entschlossenheit. Sie wuchs als Tochter eines Fabrikvorarbeiters, der sich durch gelegentliche Putzarbeiten etwas dazu verdiente, mitten im industriellen Norden Englands auf und lernte schon früh die nüchternen Werte von harter Arbeit und geradlinigem Denken kennen. Auf der weiterführenden Schule mit insgesamt 1.200 Schülern war sie eine von vier, die in der Oberstufe Physik, Mathematik und höhere Mathematik als Abiturfächer wählten, was eine Voraussetzung für die Hochschulzulassung war.
Aber was sollte sie auf der Universität studieren? „Für mich kam nur Technik in Frage“, erinnert sie sich. Sue Lyons entschied sich für Fertigungstechnik, „weil darin Personal, Verfahren, Material und Geld – alles was man braucht, um irgendetwas herzustellen – eingeschlossen waren. Das fand ich spannend.“
Und geleistet hat sie einiges. Nach dem Universitätsabschluß in Nottingham bewarb sie sich auf vier Stellen und erhielt von allen ein Angebot. Schließlich stand sie vor der Wahl zwischen Mars-Schokolade und Rolls-Royce Motorenwerken. Obwohl Mars ihr ein um 50 Prozent höheres Gehalt bot als Rolls-Royce und außerdem einen fortschrittlicheren Eindruck machte, zog sie Schrauben und Muttern Mandeln und Nüssen vor. Ihr Grund: „Mars bot mir einen Abteilungsleiterposten an, aber ich wollte auf breiterer Basis arbeiten – eine regelrechte Ingenieurstätigkeit. Ich hatte außerdem das Gefühl, daß mir das hohe Gehalt zum Verhängnis werden könnte.“
So begann ihre Karriere bei Rolls-Royce, einem der prestigevollsten Namen der Welt, wenn es um Motoren geht. Nach ihrer Internausbildung bewarb sie sich um einen Posten als Aufseher, um noch mehr Erfahrungen zu sammeln. „Ich hatte nur zwei Männer zu beaufsichtigen, die natürlich gleich sagten, sie würden kündigen, wenn ich den Job bekäme. Sie taten es aber nicht, als ich die Aufgabe übernahm“, fügt sie mit einem Lächeln hinzu.
Sue Lyons wurde vom Aufseher zum Schichtleiter befördert und erhielt die Verantwortung für fünf Werkshallen, 13 Vorarbeiter und 400 Beschäftigte des Bereichs Turbinenschaufeln. Sie mußte sich mit Streitereien unter den Arbeitern, einer Bombendrohung und der Tatsache auseinandersetzen, daß sie im Alter von 27 Jahren „ganz allein“ für die Herstellung von Turbinenschaufeln für zivile und militärische Anwendungsbereiche verantwortlich war.
Weiter aufwärts
Sue Lyons schwierigste Entscheidung kam jedoch 1986, als sie von einem Rolls-Royce-Zulieferer, Precision Castparts Corp., abgeworben wurde. Sie wollte gern ihren Erfahrungsschatz erweitern und nahm deshalb das Angebot an.
Während es mit Lyons Karriere bei Precision Castparts stetig aufwärts ging, konnte man leider von der Flugzeugindustrie nicht dasselbe behaupten. Konjunkturflauten machten Umstrukturierungen, Konsolidierungen und Stillegungen unumgänglich. Auf dem von den amerikanischen Giganten Lockheed Martin Corp. und Pratt & Whitney beherrschten Markt hatte Rolls-Royce, damals die Nummer drei in der Welt unter den Motorenherstellern, große Mühe, mitzuhalten. 1987 wurde das Unternehmen dann privatisiert. Mit dem Ende des Kalten Krieges verschärfte sich die Wettbewerbssituation noch weiter, und die Regierungen in allen Ländern kürzten die Wehretats. Von 1989 bis 1995 gingen die Verteidigungsausgaben der NATO-Staaten insgesamt um nahezu 100 Milliarden US-Dollar zurück.
Das waren also die Voraussetzungen, als Sue Lyons 1989 als fertigungstechnische Leiterin zu Rolls-Royce zurückkehrte. Eine ihrer wichtigsten Aufgaben war die Qualitätssicherung im Lieferantennetz. Zu diesem Zweck rief sie das Projekt 2001 ins Leben. Die Lieferanten wurden aufgefordert, bereits in einem sehr frühen Stadium ihrer technischen Entwicklungen mit Rolls-Royce zusammenzuarbeiten, um so die kostengünstigsten Lösungen zu finden.
Als Leiterin des gesamten militärischen Motorengeschäfts hat Frau Lyons heute einen breiten Verantwortungsbereich, der sich von der Kundenbetreuung bis zur operationellen Unterstützung erstreckt. Sue Lyons liebt die Herausforderung. „Wir haben äußerst fähiges Personal und ein hohes Qualifikationsniveau. Unsere Aufgabe ist es, neue Wege zu finden, dieses Potential voll auszuschöpfen, um den Kunden mehr Service zu bieten.“
Partnerschaften aufbauen, Fachbereiche miteinander verknüpfen, die Gesamtzusammenhänge erkennen – all dies gehört zu Sue Lyons Spezialität. Sie ist ein enthusiastischer Fürsprecher fächerübergreifender Ausbildung und hat sich an der Erarbeitung eines Hochschulprojekts zur Entwicklung einer 50 Kilowatt Gasturbine beteiligt. Das Projekt läuft am Londoner Imperial College of Science, Technology and Medicine, wo sie als Gastprofessor Vorlesungen abhält, und verbindet sowohl akademische als auch industrielle Ansätze.
Dr. Keith Pullen, Dozent am Imperial College, arbeitet im Rahmen dieses Projekts mit Sue Lyons zusammen. Er meint, sie verfüge nicht nur über ein beeindruckendes technisches Fachwissen, sondern sie bringe auch die Studenten dazu, die Probleme von einer breiteren Perspektive aus anzugehen und neben den Konstruktions- auch die Vertriebs- und Marktfragen zu berücksichtigen.
Angesichts ihres kontinuierlichen Engagements für die Universität Nottingham und ihres Aufsichtsratspostens bei dem spanischen Flugzeugmotorenhersteller Industria de Turbo Propulsores S.A. ist es erstaunlich, daß Sue Lyons überhaupt noch Freizeit hat. Aber irgendwie gelingt es ihr, ein paar Stunden abzuzweigen, um zu reiten. Es besteht allerdings kein Zweifel daran, daß sie die Produktion am meisten fasziniert. Als das Gespräch wieder auf die Rolls-Royce-Fabrik zurückkommt, ist immer noch jener Glanz in ihren Augen zu erkennen, der ihren Vater damals vor 40 Jahren, als er sie in die Baumwollspinnerei mitnahm, sehr stolz gemacht haben muß.
Deborah Wise,
Wirtschaftsjournalistin in London