Die wahre Formel Eins

Ein Heer von Technikern

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Während sich die Fahrer der Formel Eins in ihrem Ruhm Sonnen, sind es in Wirklichkeit die Ingenieure hinter diesen leistungsstarken Maschinen, die dafür sorgen, daß die Rennfahrer schnell wieder auf die Rennstrecke zurückkehrenMonza, in Italien, Grand Prix 1996. Der leitende Teamingenieur Giorgio Ascanelli hat ein Dilemma. Michael Schumacher liegt in Führung und hat nur noch wenige Runden vor sich, aber der Füllstand seines Benzintanks ist gefährlich abgesunken. Ascanelli weiß, daß er Schumacher in die Box rufen muß, obwohl Schumachers Führung vor dem an zweiter Stelle liegenden Jean Alesi nicht groß genug ist. Durch einen Boxenstopp würde Alesi ihn unweigerlich einholen. Innerhalb von wenigen Sekunden hat der Ingenieur die vor ihm aufgereihten Computerschirme analysiert. Er holt tief Luft und trifft eine Entscheidung.
„Ich ließ ihn noch eine Runde auf der Bahn, um ihm einen größeren Vorsprung vor Alesi zu geben“, erinnert sich Ascanelli und zwinkert nervös mit den Augen bei dem bloßen Gedanken. „Als er in die Box kam, lag der Kraftstoffdruck bei Null, was einer Füllmenge von etwa 300 g entspricht.“ Schumacher setzte das Rennen fort und gewann es. Das dachten zumindest die 100.000 begeisterten Italiener.
„Giorgio rettete den Tag“, sagt Gustav Brunner, technischer Leiter des Minardi Formel 1-Teams. „Wenn der Ferrari wegen eines leeren Tanks liegengeblieben wäre, hätte Giorgio Monza nicht lebend verlassen. Die 100.000 Italiener hätten ihn wohl gelyncht.“
Die verborgene Welt der Renntechniker kann zwar nicht die schönen Frauen und die Besessenheit der Teilnehmer aufweisen, die die Formel 1 zu einer der besten Seifenopern des Sports gemacht haben, aber das Konzept, das dafür sorgt, daß die Fahrer schnell wieder im Rennen sind, wird in der Box geschrieben.
Brunner, ein ehemaliger Konstrukteur von Ferrari, der 30 Jahre lang Formel 1-Wagen konstruiert hat, meint dazu: Mit 100 Millionen Dollar an der Wall Street zu jonglieren, ist nichts verglichen mit dem Leben, das wir führen.“ Entscheidungen werden in Bruchteilen von Sekunden getroffen – nicht vom Fahrer, sondern vom Techniker in der Box.
„Innerhalb von zehn Sekunden muß man entscheiden, ob ein Fahrer in die Box soll oder nicht, ob Kraftstoff aufgefüllt oder abgezapft werden soll, welche Reifen am besten sind, welcher Fahrer seine Rennstrategie auf einen Boxenstopp ausrichtet und welcher auf zwei – und die ganze Zeit muß man die Bildschirme, die Zeiten, die Rennstrecke und vieles mehr im Auge behalten. Es ist die reine Hölle, glauben Sie mir.“

Ein Heer von Technikern

Die bloße Anzahl der Leute, die sich in und um Ferraris Box herum aufhalten – 50 bis 55 Mann – ist schon beeindruckend. Für jeden Rennwagen einschließlich des Ersatzwagens gibt es einen Hauptmechaniker sowie eine Reihe von Reifenwechslern (Formel 1-Teams nehmen zu Grand-Prix-Rennen über 150 Reifen – 13 x 4 Reifen pro Wagen – mit.) Außerdem stehen noch ein Getriebemechaniker, ein Motormechaniker und ein Renningenieur mit seinem Unterstützungsteam zur Verfügung. Mit kaum einer Sekunde Zeitunterschied zwischen dem Sieger und dem Verfolger kann man sagen, daß die Rennen hier gewonnen oder verloren werden, und zwar nicht nur während der 90 Minuten eines Grand Prix, sondern in den drei Tagen, die zwischen der ersten Trainingsrunde und der Zielfahrt des eigentlichen Wettbewerbs liegen.
In modernen Formel 1-Wagen gibt es nur wenige revolutionierende technische Neuerungen. Ihre Weiterentwicklung besteht eher aus kleineren Fortschritten. Der Rennwagen existiert zunächst nur als Modell auf dem Computerschirm, und das Team arbeitet dann die gesamte Saison daran, ihn für die Wirklichkeit fit zu machen. Ferrari absolviert jedes Jahr bei der verzweifelten Suche nach Perfektion schätzungsweise 50.000 Kilometer Testläufe und baut 800 Motoren. In 15 Jahren war Ascanelli an der Entwicklung von 21 Motorkonstruktionen beteiligt.
„Es sind Tausende von kleinen Fortschritten, aber kein wirklicher Durchbruch“, so Brunner.

Regeländerungen

In den siebziger Jahren waren es die ersten Rennwagen mit Flügeln, die einen Vorsprung vor anderen Teams erzielten. Heute läßt das Regelwerk wenig Raum für große technologische Sprünge. Die Ingenieure müssen sich mit kleineren technischen Verbesserungen begnügen. Letztes Jahr dominierte das McLaren-Team mit seinem MP4/13 die Grand-Prix-Rennen, weil breitere Vorderräder verwendet wurden. Der neuste Ferrari F399 sieht aus wie das Vorjahresmodell, wiegt aber 40 Kilogramm weniger.
In der Ferrari-Fabrik mit 400 Beschäftigten in Maranello ist eine ganze Abteilung der Forschung und Entwicklung gewidmet. Hier gibt es für jeden Fachbereich spezielle Ingenieure: für Konstruktionstechnik, Kohlenfaserstoffe, Elektronik, Federungssysteme, Software usw. Selbst der Fahrersitz hat seinen eigenen Konstrukteur.
„Der Ingenieur, der die Frontpartie des Rennwagens konstruiert, weiß kaum, wie das Heck aussehen wird und umgekehrt“, meint Brunner.
Vor 20 Jahren, als die Rennteams noch aus wenigen Leuten bestanden, gab es Brunners Titel des technischen Leiters gar nicht. Heute gehört er zu den wenigen, die einen Gesamtüberblick über die Rennwagenkonstruktion haben. Er hat eine einflußreiche Position. Brunner erinnert sich noch genau daran, wie Enzo Ferrari, der verstorbene Gründer der Ferrari-Fabrik, zu ihm sagte: „Hier ist die Fabrik. Ich will in vier Monaten hier drei rote Autos sehen.“
Die Zeiten, als das Wolf-Team beim Grand Prix in Argentinien 1979 Metall aus einer Leitplanke herausschnitt, um die Karosserie eines Rennwagens zu reparieren, sind längst vorbei. Ein wenig von dieser Pionierzeit ist heute noch bei dem ewigen Nachzügler Minardi zu verspüren.

Kunst und Wissenschaft

Während Ferraris Eingangshalle mit Schwarzweißfotos von früheren Weltmeistern geschmückt ist, weisen bei Minardi in der Hauptverwaltung in Faenza lediglich eine Reihe von Plaketten auf die Teilnahme an 15 Weltmeisterschaften hin. Ein vierter Platz bei einem Rennen 1995 scheint das beste Ergebnis zu sein. Wie Brunner allerdings sagt, ist er von Ferrari weggegangen, um den Wurzeln dieses Sports näherzukommen. Der Konstrukteur, der für seine Entwicklungen nach wie vor Papier und Bleistift braucht, glaubt, daß sich Formel 1-Zwerge wie Minardi am Reißbrett immer noch mit den hochtechnisierten Riesen messen können.
„Wenn es nur um die Wissenschaft ginge, hätte McLaren die letzten sieben Meisterschaften gewonnen, weil dort 1.000 Ingenieure beschäftigt sind und Hunderte von Millionen Dollar investiert werden“, so Brunner. „Es ist jedoch immer noch zu 50 Prozent eine Kunst. Die Spezialisten sind wichtig, aber erst wenn das übergreifende Gesamtkonzept stimmt, kommt etwas Gutes dabei heraus.“
Ferrari investierte 1998 etwa 500 Millionen Lire (rund 5 Millionen DM oder 2,7 Millionen Euro) pro Tag, wobei der Rennwagen als solcher eine Million Dollar kostet. Minardis Kosten werden sich in dieser Saison auf etwa 70 Milliarden Lire (70 Millionen DM oder 36 Millionen Euro) belaufen, was kaum überrascht, wenn man bedenkt, das allein der Rückspiegel eines Formel 1-Wagens 875.000 Lire (870 DM oder 443 Euro) kostet. Letztendlich geht es nicht nur um den Kontostand des Besitzers, sondern auch um das Leben des Fahrers.
Wenngleich auch die Ingenieure von nüchterner Wissenschaft reden, bleiben sie in ihrer verborgenen Welt der Technik nicht unberührt von jener Leistung und Leidenschaft.
„Wenn man seinem Fahrer das Visier abwischt, bevor man ihn auf die letzten Runden hinausschickt, hat man schon Tränen in den Augen“, erzählt Ascanelli. „Und wenn man sieht, daß alles gut läuft, und wenn er dann gewinnt – das ist zweifellos ein tolles Gefühl.“

Chris Endean

Journalistin in Rom

Fotos Antonello Nusca

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