Von der Rennbahn auf die Straße
Seit Jahren beeinflusst der Motorsport Aussehen und Leistung von Straßenfahrzeugen. Inzwischen spielen sogar die extremen Testbedingungen der Formel 1 eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung von kraftstoffsparenden Technologien für die Straße.
Seit 2009 gelingt es Formel-1-Teams, mit Hilfe der KERS-Technologie ihre Rundenzeiten um einige zehntel Sekunden zu verbessern. KERS steht für Kinetic Energy Recovery System. Es ist ein Verfahren zur Rückgewinnung der beim Bremsen erzeugten Energie, um höhere Geschwindigkeiten zu erreichen. Dieselbe Technologie soll 2013 in sechs Londoner Bussen installiert werden – nicht um sie schneller zu machen, sondern um den Kraftstoffverbrauch und Schadstoffausstoß zu senken. Es ist zwar nicht ungewöhnlich, dass Entwicklungen im Motorsport bis in die Kfz-Serienproduktion vordringen, aber noch nie ist dieser Technologietransfer so schnell vonstattengegangen oder hat so bedeutende Auswirkungen gehabt.
„Im derzeitigen wirtschaftlichen Klima spielt die Formel 1 eine ganz wesentliche Rolle in der technischen Entwicklung der Autoindustrie“, erklärt Kirsty Andrew, Leiterin des kommerziellen Geschäfts bei Advanced Engineering, der Williams-Sparte, die sich für die Kommerzialisierung der Formel-1-Technologie von Williams stark macht. „Die Formel 1 ist gut darin, neue technische Verfahren rasch zu entwickeln und sie unter den extremen Bedingungen des Rennsports zu testen.“
Williams’ Formel-1-Wagen bekommen einen Leistungsschub von einer Batterieversion des KERS-Systems. Für diese Technik interessiert sich jetzt auch die Autoindustrie. Der zurzeit in der Entwicklung befindliche Jaguar C-X75 Hybrid-Sportwagen soll so zusätzliche Leistung erhalten.
Williams hat außerdem ein System für Schwungradspeicherung entwickelt, das in Nahverkehrsbussen eingesetzt wird. „Es reduziert den Kraftstoffverbrauch und damit den Schadstoffausstoß durch Rückgewinnung der Energie, die durch das häufige Bremsen des Busses erzeugt wird“, sagt Andrew. Bis zu 20 Prozent Kraftstoff lassen sich damit einsparen.
Steve Harper konstruiert Autos für Straße und Rennbahn. Er erklärt, welche Konstruktionselemente, die er zur Leistungssteigerung im Motorsport eingeführt hat, auch in Ford- und Volvo-Modelle verwendet werden. „Der Ford Escort Cosworth war das erste Serienfahrzeug mit erhöhtem Anpressdruck auf Vorder- und Hinterachse. Wir haben das Modell über lange Zeit im Windkanal getestet, um seine aerodynamischen Eigenschaften zu perfektionieren“, meint er. „Seither basiert jedes von mir konstruierte Serienfahrzeug auf den bei der Entwicklung des Cosworth gewonnenen Erkenntnissen, wenn es um die Ausführung des Kühlergrills oder der Einlassventile geht.“
Volvo hatte in den 1980er Jahren den Ruf, kastenförmige Autos zu bauen. Heute sind Volvo-Autos für ihre schlanke, sportliche Linienführung bekannt. Harper führt diese Entwicklung auf Volvos Beteiligung an den Britischen Tourenwagen-Meisterschaften Anfang der 1990er Jahre zurück.
Auch bei der Innenausstattung sind die Einflüsse des Motorsports unverkennbar. „Früher hatte man klassisches Leder- und Holzinterieur“, so Harper. „Heute dominieren Aluminium und Carbon. Egal ob es um die Materialwahl oder die Form des Schalthebels geht, der Fahrer soll sich hinter dem Lenkrad wie Michael Schumacher fühlen.”
Titan Motorsport & Automotive Engineering schlägt mit der Produktion von Metallkomponenten für Rennwagen und hochwertige Straßenfahrzeuge eine Brücke zwischen Motorsport und Autoindustrie. Wie Vertriebs- und Marketingleiterin Zoe Timbrell erklärt, können die Komponenten aus dem gleichen Material und sogar in der gleichen Ausführung hergestellt werden. „Der Automobilbau sorgt für niedrigere Kosten und der Motorsport für höhere Leistung“, kommentiert sie.
Genau wie Williams’ Energiespeicherungssysteme erfüllen auch die technischen Lösungen von Titan in Rennwagen und Straßenfahrzeugen unterschiedliche Zwecke. „Beim Motorsport zielt die Entwicklung nur auf höhere Geschwindigkeiten ab“, fährt Timbrell fort. „Im Automobilbau geht es vor allem um Kraftstoffeinsparungen. Beides lässt sich mit denselben Verfahren erreichen.“
Laut Clive Temple, Leiter des Fachbereichs Motorsporttechnik und -management an der Cranfield University in Großbritannien, sind es Vertriebsgründe und weniger Forschungs- und Entwicklungsinteressen, die das Engagement der meisten Erstausrüster im Motorsport bestimmen. Dennoch sei es Audi gelungen, durch seinen langjährigen Einsatz im Motorsport die Dieseltechnik für seine Serienmodelle weiterzuentwickeln. „Früher waren Dieselmotoren in den Augen der meisten nur etwas für Taxis und Lastwagen“, stellt Temple fest. „Aber seit einigen Jahren werden bei Audi Dieselmotoren in allen Modellen, auch in Luxus- und Sportkarossen, eingebaut. Neben dem Marketing-Aspekt dieses Trends gibt es zweifellos auch technische Beweggründe. Die Diesel- und Antriebstechnik konnte eben entsprechend verfeinert werden.“
Gleichzeitig stehen jedoch gewisse Motorsportregeln, die eingeführt wurden, um den Unterhaltungswert zu erhöhen, dem Technologietransfer oft im Wege, meint Temple. „Tourenwagen sind nicht einmal mit einem Antiblockiersystem ausgerüstet, das in den meisten Fahrzeugmodellen heute vorhanden ist. Die Formel 1 gilt als die Krönung des Motorsports mit den besten Fahrern. Deshalb verzichtet man auf derartige Fahrhilfen, die für den normalen Autofahrer auf dem Weg zur Arbeit oder nachhause selbstverständlich sind.“
In einer nicht allzu fernen Zukunft könnten jedoch auch ganz normale Straßenfahrzeuge von Formel-1-Technologie angetrieben werden. Laut Andrew von Williams’ F1-Sparte soll die zurzeit in Bussen getestete KERS-Technik auch auf Autos übertragbar sein. „Das System muss noch billiger werden, aber die Möglichkeit besteht“, meint sie.
High-speed Technologietransfer
In der Formel-1-Saison 2014 wird es eine Umstellung auf kleinere V6-Motoren mit nur einem Turbolader und neue Systeme zur Energierückgewinnung geben. SKF ist maßgeblich an der Entwicklung dieser Technologien beteiligt, die bald auch im Alltag zur Anwendung gelangen könnten.
Jean-Sylvain Migliore, Leiter SKF Racing Unit, meint dazu: „Für die HERS- und KERS-Technik, also für Systeme zur Rückgewinnung von Wärmeenergie beziehungsweise kinetischer Energie, sind die Lager wegen der hohen Anforderungen an Drehzahl, Temperatur und Schmierung äußerst wichtige Bauteile. Deshalb sind wir bereits auf Systemebene stark in den Prozess involviert. Wir werden daraus eine Menge Erkenntnisse gewinnen, die SKF dann bei Lösungen für die Autoindustrie nutzen kann.“
Das gleiche gilt für einen neuen elektrischen Turbolader, der in der Formel 1 eingesetzt werden soll. „Die Lehren aus der Entwicklung des neuen Turboladers werden noch nützlicher sein als die aus der KERS-Technik und eine rasche Übertragung auf Personenkraftkraftwagen ermöglichen. Der schnelle Technologietransfer von meiner Abteilung auf die gesamte Automobilsparte von SKF ist äußerst wichtig.“
Die ultimative Teststrecke
SKF Lösungen sind in fast jedem Formel-1-Rennwagen zu finden. Es gibt keine bessere Teststrecke für neue Konzepte, Merkmale, Werkstoffe und Schmiermittel.
Jean-Sylvain Migliore ist Leiter der SKF Racing Unit. „Unsere Hauptaufgabe ist der Technologietransfer vom Motorsport auf SKF Abteilungen, die Lösungen für die Autoindustrie und sonstige Branchen entwickeln“, erklärt er. „Die extremen Bedingungen des Motorsports sind für uns gute Voraussetzungen, um neue Entwicklungen rasch und effizient zu testen. Diese Innovationen könnten schon innerhalb von fünf bis zehn Jahren auf der Straße oder in anderen Industriezweigen eingesetzt werden.“
SKF ist bereits seit fast 100 Jahren im Motorsport engagiert und bietet Rennteams und Rennwagenherstellern weltweit maßgeschneiderte Lösungen an. SKF Racing Unit arbeitet seit 65 Jahren mit dem Formel-1-Team von Ferrari in einer technischen Partnerschaft zusammen und ist auch in anderen Bereichen des Motorsports wie etwa Rallye, Tourenwagen und NASCAR aktiv.